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Über die Frontlinien hinweg

Adrien Kuenzy
12. Januar 2024

Die Ausrüstung erlaubte eine 360 Grad-Aufnahme. © Vadym Makhitka

Der Ukrainer Volodymyr Kolbasa, Koregisseur des packenden immersiven Werks «Fresh Memories: The Look», das vor Kurzem in Genf gezeigt wurde, taucht mitten in die Stadt Charkiw und ihre zerbombten Quartiere ein.

Virtuelle Realität ist ein komplexes Werkzeug, aber kein Selbstzweck. Ohne den besonderen Blickwinkel des Künstlers oder der Künstlerin erzeugt ein VR-Helm nicht mehr als das Gefühl, an einen anderen Ort transportiert zu werden. Der ukrainische Filmemacher Volodymyr Kolbasa, der gemeinsam mit dem Tschechen Ondřej Moravec «Fresh Memories: The Look» erschaffen hat, setzt voll auf Immersion. Im Kurzfilm, der am letzten Geneva International Film Festival vorgestellt wurde, macht das Publikum einen virtuellen Rundgang durch die Stadt Charkiw, die nahe der russischen Grenze liegt und zu Beginn des Kriegs sehr hart getroffen wurde. In diesem Werk, das demnächst auch am Fipadoc in Biarritz sowie am Kurzfilm-Festival von Clermont-Ferrand gezeigt wird, taucht man mit jeder Sequenz in die sehr detailliert dargestellte Welt einer Figur ein. So wird auch dem Publikum schwindlig, wenn es sich auf dem Dach eines Hochhauses, am Rande des Abgrunds wiederfindet. Der Film verzichtet auf jegliche Tricks, sondern gibt der Magie des Moments Raum, um sich zu entfalten, und lässt dem Publikum Zeit zum Nachdenken.

Der Filmemacher erlaubt sich auch eine gewisse Eigenheit: Während er den Krieg aus nächster Nähe zeigt – wir treffen immer wieder Leute, die inmitten der Trümmer ihres Wohn- oder Arbeitsorts stehen und lange in die Kamera starren – passt der Ton nicht zu den Bildern, sondern gibt die Klangwelt dieser Orte vor dem Krieg wieder. «Durch die visuellen und akustischen Reize erzeugen wir absichtlich eine Dissonanz, die beim Publikum eine besondere emotionale Reaktion hervorruft», so  Kolbasa. «Wenn Sie einen vom Krieg zerstörten Ort sehen, mit einer Person, die Sie anstarrt, und Hintergrundgeräusche hören, so regt Sie das dazu an, Ihre eigene Geschichte zu erfinden. Sie werden zum Erzähler Ihrer eigenen Erfahrung», erklärt er. In Charkiw zu drehen, nicht weit entfernt von seinem Wohnort Poltawa, war ihm sehr wichtig. Es gibt mehrere immersive Werke, die während des Kriegs in anderen Städten der Ukraine gedreht wurden, wie «You Destroy. We Create.» von Gayatri Parameswaran und Felix Gaedtke, doch in Charkiw wurde bisher noch nichts realisiert.

 

Immersives Kino mitten im Konflikt

Die grösste Herausforderung für  Kolbasa besteht in der Fortsetzung seiner Arbeit während des Konflikts. In einer Zeit, in der der Krieg zu einer Schlacht der Bilder wird, ist es für ihn von entscheidender Bedeutung, den Alltag der Menschen darzustellen, ohne das Publikum zu einer Stellungnahme zu zwingen und ohne es durch vereinfachendes Pathos zu beeinflussen. Die beiden Filmschaffenden liessen sich auch von Marina Abramović und ihrer Performance mit dem Titel «The Artist is Present» inspirieren, wo das Publikum aufgefordert wurde, sich der serbischen Künstlerin gegenüberzusetzen und ihr direkt in die Augen zu schauen. «Einerseits wollten wir die Protagonisten und Protagonistinnen aus grösstmöglicher Nähe aufnehmen, um sie dem Publikum so nahezubringen, dass es zuweilen fast unangenehm werden kann. Andererseits wollten wir einen gewissen Abstand wahren, der Raum zum Nachdenken gibt», fährt  Kolbasa fort.

Die virtuelle Realität kann das Gefühl, tatsächlich Zeuge eines Ereignisses zu sein und in die Situation einzutauchen, verstärken. Für den Regisseur ist dies nichts Neues, hat er doch auch eine klassische akademische Ausbildung. «Ich habe in Kiew an der Karpenko-Kary-Universität Film studiert – meines Wissens die älteste Filmschule der Ukraine, und die einzige öffentliche Filmschule in unserem Land». Der Künstler hat mittlerweile grosse Erfahrung mit immersiven Projekten und erweiterter Realität (XR). Nach einem Master in «Digital Narratives» an der TH Köln erwarb er durch Studien in Irland, Ungarn und Estland zudem einen Master in Filmwissenschaften des Erasmus-Mundus-Viewfinder-Programms. Ausserdem hat er schon mehrere immersive Projekte mit pädagogischem Hintergrund entwickelt, für Museen und andere öffentliche Institutionen.

Zurzeit arbeitet er gemeinsam mit einem Freund aus Aserbaidschan, Teymur Hajiyev, an einem Dokumentarfilm über einen befreundeten Soldaten, der in der Ukraine vermisst wird. «Er wurde nicht getötet, so hoffen wir zumindest, doch er könnte in Kriegsgefangenschaft sein». Der Film fokussiert sich auf seine Frau und auf ihre Art, mit der Unsicherheit über sein Schicksal umzugehen – seit nunmehr sieben Monaten. «Ich werde bei der Erschaffung meiner Werke immer die Haltung eines Regisseurs beibehalten. Jeder Film braucht einen starken künstlerischen Ausdruck, selbst inmitten eines Konflikts, und wir dürfen nie vergessen, Geschichten zu erzählen».

Porträt des Regisseurs Volodymyr Kolbasa © Anya Gusakova

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