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Die «Lex Netflix» verändert die Spielregeln

Adrien Kuenzy und Teresa Vena
12. Januar 2024

Einblick in die Kulisse der Serie «Winter Palace», die erste Zusammenarbeit zwischen Netflix und RTS, die noch bis März 2024 gedreht wird. © RTS/Laurent Bleuze

Am 1. Januar 2024 tritt in der Schweiz das neue Filmgesetz in Kraft. Sind in der Branche bereits Auswirkungen spürbar? Welche Fragen stellen sich für die verschiedenen Akteure?

Das Schweizer Filmgesetz wurde um eine Verordnung (FQIV) ergänzt, die bei Onlineplattformen und privaten ausländischen Sendern eine Quote für europäische Inhalte sowie eine Investitionspflicht zugunsten des Schweizer Filmschaffens festlegt. Die Unternehmen werden also in Zukunft vier Prozent ihres in der Schweiz erwirtschafteten Umsatzes investieren oder abführen müssen. Schätzungen zufolge soll es sich um bis zu 24 Millionen Franken pro Jahr handeln. Die Unternehmen haben Zeit, ihre Umsätze bis Ende März 2024 anzugeben. Das Bundesamt für Kultur (BAK) geht daher davon aus, beim nächsten Locarno-Filmfestival genauere Zahlen kommunizieren zu können.

Wer genau vom neuen Mittelfluss profitieren wird, muss sich zeigen. Da es sich um eine Investition und nicht um eine Förderung handelt, ist ein Einsatz nach dem aktuellen schweizerischen System, das um demokratische Mitwirkung und Gleichberechtigung bemüht ist, nicht zu erwarten. Eine Investition setzt ein Minimum an Rendite voraus. 

Welche Formate werden sich durchsetzen? Welcher Kompromisse bezüglich künstlerischer Freiheit bedarf es? Wie viel «Schweiz» wird in den Inhalten wiederzufinden sein? Wie werden die Verhandlungen über Urheber- und Auswertungsrechte ablaufen?

Wie die Strategien der verschiedenen Unternehmen für die Schweiz genau aussehen, ist (noch) nicht zu erfahren. Netflix, die als grösste Onlineplattform,  exemplarisch für die anderen, über die Verantwortlichen der DACH-Region in Deutschland kontaktiert wurde, hält sich bisher bedeckt. Schweizer Filmschaffende und Produktionsfirmen, die bereits Erfahrungen gesammelt haben, äussern sich ebenfalls nur zögerlich. Von den Konkurrenten möchte man sich nicht in die Karten schauen lassen. 

Das lässt vermuten, dass sich die Branche eher nicht um eine gemeinsame Strategie im Umgang mit den neuen Akteuren bemühen wird. Vielmehr werden viele Einzellösungen entstehen - in der Schweiz nichts Neues. Zumindest für die Förderstellen bietet sich jetzt aber die Gelegenheit, das jeweilige Rollenprofil zu schärfen. 

 

Der Weg über die öffentliche Förderung

Dem BAK kommen zwei Aufgaben zu: Das ist zum einen die Umsetzung der Verordnung, indem es die Investitionen der Unternehmen bescheinigt. Zum anderen kann das BAK als Mitförderer für genau in diesem Rahmen neu entstehende Projekte in Erscheinung treten. 

Förderbar ist eine Koproduktion, wenn die unabhängige Produktionsfirma die kreative und finanzielle Verantwortung an der Herstellung trägt sowie einen substantiellen Anteil an den Rechten des Films behält. Ausgeschlossen ist somit die finanzielle Unterstützung eines reinen Auftragsfilms, auch wenn sie von einem Schweizer Unternehmen durchgeführt wird und dadurch als Beitrag zur Pflichtinvestition angerechnet werden kann. Das gilt auch für Subventionen von MEDIA Desk Suisse. 

Die bisherigen ausländischen Onlineplattformen selbst gelten nicht als unabhängiger Produzent, nach aktueller Auslegung auch nicht, wenn sie einen Sitz in der Schweiz gründen sollten. 

Ein konkretes Beispiel für die künftige Vorgehensweise ist «Early Birds» von Michael Steiner. «Der Film konnte vom BAK mitfinanziert werden, weil Hugofilm bei der Koproduktion mit Netflix und CH Media Entertainment federführend ist», erklärt Matthias Bürcher vom BAK. Netflix und CH Media Entertainment sind in diesem Fall beide investitionspflichtige Abrufdienste, Hugofilm der unabhängige Produzent.  

Von weiteren bevorstehenden Projekten, die vom BAK Förderung bekommen, konnten Ivo Kummer und Matthias Bürcher aktuell nicht berichten. Um substantielle Auswirkungen beurteilen zu können, müsse man sich bis 2025/2026 gedulden. «Über das Verhalten der Unternehmen kann man bisher nur spekulieren. Es ist noch zu früh, um Anpassungen der eigenen Förderinstrumente vorzunehmen», sagt Ivo Kummer. Vermutlich wird es aber vorerst dabei bleiben, dass man die Herstellung von Serien nicht subventioniert. 

 

Rückenstärkung für die Schweizer Szene

Auch die kantonalen Förderstellen machen sich ihre Gedanken. «Bisher wurde kein neuer Fördermechanismus beschlossen, doch es ist klar, dass diese Frage alle öffentlichen Förderinstitutionen in Europa beschäftigt, also reden auch wir schon seit einer Weile darüber», so Stéphane Morey, Geschäftsführer von Cinéforom. Auf nationaler Ebene stellt er jetzt schon ein bedauernswertes Ungleichgewicht fest. Die SRG ist der einzige wirkliche Partner der Plattformen, um die «Lex Netflix» in die Tat umzusetzen, während das BAK zwar die Bedingungen vereinfacht, aber keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung stellt. «Das heisst, dass die neue Kulturbotschaft vorsieht, wie in Kanada die Koproduktionsabkommen auf Serien auszuweiten, das BAK jedoch keine direkte Förderung für Serien zur Verfügung stellt, da die Mittel dazu fehlen», fügt er an.

In der Westschweiz zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Auf der einen Seite investiert RTS in Serien, doch Cinéforom ist aus Mangel an Mitteln nicht in der Lage, der Bewegung zu folgen. Derzeit befinden wir uns noch in der Beobachtungsphase. «Auf internationaler Ebene stelle ich fest, dass sowohl die Länder, die den Plattformen vollkommen freie Hand lassen, als auch diejenigen, die sich sehr restriktiv geben, mit grossen Umwälzungen konfrontiert sind», so Stéphane Morey weiter. Es ist immer das gleiche Dilemma zwischen Begeisterung für die wirtschaftlichen Anreize einerseits und Förderung des unabhängigen Filmschaffens andererseits. «Hier besteht die Gefahr einer Wirtschaftsblase, die zwar ökonomischen Nutzen bringt, doch nicht unbedingt zur kulturellen Entfaltung unserer Branche beiträgt», fährt Stéphane Morey fort. Er ist für den Mittelweg, das heisst ein proaktives «Surfen auf dem Tsunami», indem die Beteiligung der öffentlichen Institutionen gestärkt wird, damit auch lokale Produktionsfirmen als Partner agieren können, anstatt von den neuen globalen Akteuren verdrängt zu werden.

Ähnliche Überlegungen beschäftigen auch die Geschäftsführerin der Zürich Filmstiftung Julia Krättli. Sie bearbeitet derzeit die Frage, wie die Stiftung helfen kann, «die Produzenten und Produzentinnen in ihrer Verhandlungsposition zu stärken». Dabei geht es insbesondere um den Erhalt von Auswertungsrechten. Ein weiteres Thema ist der Mittelfluss, da gewisse Unternehmen ihre finanzielle Beteiligung zeitverzögert leisten und dies die Liquidität der Produktionsfirmen beeinträchtigen kann. Indirekt hat letzteres bei Lizenzverkäufen auch einen Einfluss auf die Verpflichtung der Firmen, die Fördersumme zurückzuzahlen, sobald sie Gewinne einfahren. Doch auch dafür müssen die Entwicklungen erstmal abgewartet werden.

​​Ein akuter Handlungsbedarf besteht für die Filmstiftung aktuell nicht, doch sie beschäftigt sich seit einigen Monaten mit dem Thema und prüft, ob das eigene Reglement Anpassungen benötigt. Grundsätzlich wird man sich aber in Bezug auf die Förderaktivität an der neuen Verordnung des BAK orientieren. Da die Filmstiftung bereits jetzt Serienprojekte mitfinanziert, ist sie auf einen möglichen Anstieg der Fördergesuche in diesem Bereich vorbereitet. «Unser Zweck ist die Förderung des unabhängigen, professionellen Filmschaffens im Kanton Zürich», bekräftigt sie. Entsprechend werde bei den eingereichten Projekten die Unabhängigkeit der Filmschaffenden wesentlich sein. 

 

Der Zürcher Langstrassen-Thriller «Early Birds» ist die erste Grosskoproduktion der Schweiz mit Netflix. © Solothurner Fimtage

 

Das öffentlich-rechtliche Schweizer Fernsehen als Partner

Vor einer Zusammenarbeit mit den Onlineplattformen fürchtet sich die SRG nicht, bestätigt Sven Wälti, Leiter Film bei der SRG. Stattfinden kann sie über verschiedene Kanäle. Die Plattformen oder auch ausländische investitionspflichtige Fernsehsender können beispielsweise die Lizenz an bereits von der SRG produzierten Werken erwerben. 

Möglich ist auch die gemeinsame Herstellung neuer Inhalte. Eine Koproduktion muss allerdings dabei über einen oder mehrere unabhängige Produzenten laufen. Verträge werden von der SRG nicht direkt mit der Plattform geschlossen. Die SRG beteiligt sich finanziell nicht an reinen Auftragsproduktionen der jeweiligen Unternehmen. 

Bei der Erarbeitung des neuen «Pacte de l’audiovisuel», der ab 2024 gilt, hat man sich proaktiv auf mögliche Bedürfnisse der Plattformen und Sender vorbereitet. Bisher griff ein exklusives sechsmonatiges Auswertungsrecht auf von der SRG SSR mitfinanzierten Produktionen. Neu wird es erstens möglich sein, dass ein Partnerunternehmen die Auswertung zeitnah vornehmen kann, wenn es zu einem ähnlichen Anteil an der Finanzierung beteiligt ist. Zweitens, kann dem Partnerunternehmen eine Erstauswertung zugestanden werden, wenn der Finanzierungsanteil des Schweizer Fernsehens kleiner als 30 Prozent ist. Wälti beschreibt damit den neuen Fall: «So konnten wir uns mit Netflix einigen, dass die Plattform bei der achtteiligen Serie «Winter Palace», mit der Lancierung nach sieben Wochen Exklusivität für die SRG beginnt».

Auch wenn sich Wälti grundsätzlich optimistisch zeigt bezüglich der neuen Möglichkeiten, auf eine Prognose lässt er sich nicht ein: «Die Geschäftsmodelle der Plattformen ändern sich dafür zu regelmässig». Erste Erfahrung hat man im Fall von «Neumatt» gesammelt, wofür Netflix Auswertungsrechte gekauft hat, sowie bei der aktuellen Herstellung von «Winter Palace». «Es handelt sich um eine teure Serie», erklärt Wälti, «die mit nur Schweizer Mitteln vermutlich nicht realisierbar gewesen wäre». 

Angst um die künstlerische Freiheit der Schweizer Filmschaffenden habe er  nicht. Bisher hätten die meisten der infrage kommenden Unternehmen kein Büro in der Schweiz und hätten vermutlich kaum Ressourcen, Redaktoren mit umfassenden Überarbeitungen von Drehbüchern oder Betreuungen von Projekten zu betrauen. Dass Projekte inhaltlich einen zu kleinen Schweizbezug haben könnten, befürchtet Wälti ebensowenig. Genau das benötige man ja, um den Anschluss an das Schweizer Publikum herzustellen. 

Diesen Aspekt im Auge zu behalten, wird den Filmschaffenden, sofern es ihnen eine Priorität ist, selbst überlassen. Das BAK hat auf jeden Fall nicht vor, sich inhaltlich noch sonst in Bezug auf Diversität der entstehenden Produktionen einzumischen.

 

Erste Erfahrungen

Zurzeit sind nur sehr wenige Serien oder andere Projekte mit Streaming-Giganten in Koproduktion. Zudem wollen die Schweizer Produktionsfirmen, die aktuell mit Plattformen in Verhandlungen stehen, sich nicht einmal anonym dazu äussern, was die Informationsgewinnung noch schwieriger macht. Unter den Projekten, die derzeit im Rahmen der neuen «Lex Netflix» produziert werden, erregt die bereits erwähnte Serie «Winter Palace» von Pierre Monnard viel Aufmerksamkeit. Obwohl die Einzelheiten des Vertrags zwischen Point Prod (in Koproduktion mit Oble) und Netflix geheim bleiben, beschreibt Jean-Marc Fröhle, Produzent und Partner bei Point Prod, die Zusammenarbeit zwischen der Produktionsfirma, RTS und Netflix als «harmonisch und sich perfekt ergänzend, lokal wie international». «Dieses Zusammenspiel war für die Hauptautorin Lindsay Shapero und den Regisseur Pierre Monnard sehr hilfreich bei den Vorbereitungen für die Serie».

Point Prod hebt sich ausserdem von den anderen lokalen Produktionsformen ab, da sie ihren Fokus auf Fernseh- und Onlineproduktionen und nicht in erster Linie auf Kinofilme richtet. «In unseren Bestrebungen, ein solides europäisches Netzwerk für Drama-Fiktion aufzubauen, war es ganz natürlich, auf die Plattformen zuzugehen, insbesondere durch die Vorstellung unserer Projekte an Veranstaltungen wie Serie Mania, C21, MIA Roma und anderen», erklärt Jean-Marc Fröhle. Die Entwicklung von Schweizer Serien mit internationaler Tragweite ist ein Ziel, das der Produzent seit sechs Jahren verfolgt. «Am Serie Mania 2020 nahm ich mir die Zeit, um die Akkreditierungen für belgische und Schweizer Vertreter und Vertreterinnen zu zählen: Es waren 233 für Belgien und zwölf für die Schweiz. Ich würde sagen, das ist eindeutig».

Gemäss David Rihs (siehe Interview), auch er Produzent und Partner bei Point Prod, müsste das Fördersystem besser an die heutige audiovisuelle Produktion angepasst werden. «Die Entwicklung der audiovisuellen Produktion geht über die Grenzen des Films im strengen Sinn hinaus. Fachkräfte in Bereichen wie Kamera, Ton, Szenen- und Kostümbild sowie Beleuchter und Beleuchterinnen arbeiten heutzutage auch für andere Formate wie Serien und Plattformen. Wenn wir dieses ‹Schweizer Studio›, das aus lauter freiberuflichen Fachleuten besteht, aufrechterhalten wollen, muss der Weg für weitere solche Projekte geebnet werden».

Für den Spielfilm «Early Birds» lief der Kontakt mit Netflix über dessen DACH-Büro in Berlin. «Die Zusammenarbeit war sehr angenehm, da die gemeinsam getroffenen Entscheide immer auf das bestmögliche Resultat fokussiert waren», sagt Christof Neracher von Hugofilm, «das Unternehmen hat auch eigene gute Ideen und schlug beispielsweise einen Darsteller vor, den wir sehr gerne übernommen haben». Die Arbeitsprozesse seien eine Mischung zwischen denen einer Kino- und einer Fernsehkoproduktion. Wichtig sei eine intensivere anfängliche Abstimmung.  

Ähnlich beschreibt es auch Ivan Madeo von Contrast Film, der aktuell mit mehreren Onlineplattformen verhandelt. Für ein Projekt werden im nächsten Jahr die Dreharbeiten beginnen. «Die Zielsetzung ist klar definiert». Bei der Besetzung der Schlüsselposition spreche man sich ab, danach sei man in der Umsetzung recht frei. 

Mit Dschoint Ventschr steht Filmemacher Samir ebenfalls mit Onlineplattformen im Austausch. «Im Unterschied zu den Serien ist bei einem Film die Handschrift wichtig», sagt er und macht sich keine Sorgen über eine möglicherweise zu grosse inhaltliche oder künstlerische Intervention. «Ein Film über Schweizer Bauern wird aber wenig Chancen haben», fügt er hinzu. 

«Lokale Aspekte von globalem Interesse», so beschreibt Peter Reichenbach von C-Films die zu erwartenden neuen Inhalte. Man müsse sich auf kommerziell Verwertbares einstellen. «Serien werden beliebter sein als Einzelfilme», ergänzt Reichenbach. Wie Christof Neracher gibt auch er zu bedenken, dass die Schweiz noch nicht viel Erfahrung mit den von den Onlineplattformen bevorzugten Genres hat. 

Regisseur und Produzent Peter Luisi hat keine Berührungsängste: «Da wir ‹Publikumsfilme› machen, könnte das passen. Wie beim Fernsehen steht die Unterhaltung im Vordergrund».

 

Zwei Frauen auf der Flucht in «Early Birds». © Solothurner Filmtage

 

Besorgnis um die Urheberrechte

Die «Lex Netflix» weckt Besorgnis in Bezug auf die Urheberrechte. Seit April 2020 ist in der Schweiz auf Bundesebene ein neues Gesetz in Kraft, das eine obligatorische Vergütung an Urheber und Urheberinnen sowie darstellende Künstler und Künstlerinnen audiovisueller Werke für Nutzungen im Abrufdienste-Bereich (VoD) vorsieht. Daraus entstand der «Gemeinsame Tarif 14», der auf der Internetseite der SSA veröffentlicht wurde und seit 1. Januar 2022 angewandt wird. Er deckt alle Formen von VoD ab: Bezahlung nach Abruf (Pay-per-View), Abonnements, werbefinanzierte sowie kostenlose Angebote wie Play Suisse. «Die Rechnungen für die Nutzung durch Plattformen im Jahr 2022 wurden 2023 von der SSA ausgestellt, doch die Auszahlung an die Urheber und Urheberinnen wird erst im Frühjahr 2024 erfolgen», erklärt Jürg Ruchti, Direktor der SSA. 

Als Folge müssen Onlineabrufdienste Rechte für die Ausstrahlung in der Schweiz bezahlen. Der obligatorische Tarif, der dabei zur Anwendung kommt, setzt eine allfällige vertragliche Vergütung der Urheber und Urheberinnen ausser Kraft. Dieses System der kollektiven Verwaltung, bei  der Urheberrechtsorganisationen die Rechte im Namen der Urheber und Urheberinnen wahrnehmen, existiert jedoch nur in gewissen Ländern wie Belgien, Frankreich, Spanien und Italien. «Nun haben wir es aber mit Plattformen zu tun, die weltweit agieren und möglicherweise in einem Land ansässig sind, das die kollektive Urheberrechtewahrnehmung  nicht kennt», fährt Jürg Ruchti fort.

Deshalb ist es wichtig, zu sensibilisieren und in unserer Branche Schutzmechanismen beizubehalten für Projekte, die rund um die Welt im Netz verbreitet werden. Roland Hurschler, Geschäftsleiter von ARF/FDS, unterstreicht: «Hier kommen wahrscheinlich einige Herausforderungen auf uns zu, insbesondere der Druck, Verträge mit uneingeschränkter Abtretung aller Verwertungsrechte abzuschliessen (sogenannte ‹Buy-out›-Verträge). Deutschschweizer Produktionsfirmen kennen diese Problematik bereits aus Koproduktionen mit Deutschland, denn auch in Deutschland gibt es keine kollektive Verwaltung von Urheberrechten durch Organisationen wie die SSA oder Suissimage».

Es muss deshalb alles unternommen werden, um in den Verträgen, welche die Schweizer Urheber und Urheberinnen mit den Produktionsfirmen abschliessen, einen Vorbehalt für Urheberrechtsorganisationen festzuhalten. Zur Erinnerung: In der Schweiz kann die obligatorische Vergütung nur von einer zugelassenen Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden. Die fünf schweizerischen Verwertungsgesellschaften wurden vom Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum zugelassen. Im Fall von VoD gilt die obligatorische Vergütung nur für Autoren und Autorinnen und für Schauspielende, nicht aber für Filmproduzenten und -produzentinnen, die ihre Filme gegenüber den Plattformen kommerziell so verwerten, wie sie es für richtig halten. Die SSA verwaltet diesen gemeinsamen Tarif, doch das System der obligatorischen Vergütung gilt nur für die Abrufdienste innerhalb der Schweiz. Für lineare Ausstrahlung – auch in der Schweiz – und für VoD in anderen Ländern hängt die kollektive Wahrnehmung der Rechte von den einzelnen Vertragsklauseln und  der Zugehörigkeit der Rechteinhaber zu einer Verwertungsgesellschaft wie der SSA oder Suissimage ab.

Die meisten Autoren und Autorinnen, Produzenten und Produzentinnen in der Schweiz verwenden heutzutage bestehende Musterverträge. Davon gibt es zwei Typen: Den «Branchenvertrag», der unter den Verbänden ausgehandelt wurde, und den Mustervertrag der SSA, der vor allem von den Westschweizer Produktionsfirmen verwendet wird. «In beiden Fällen wird der Vorbehalt klar festgehalten», so Jürg Ruchti. Wenn die Parteien einen dieser Musterverträge verwenden, gibt es also keine Probleme. Es kann jedoch sogar bei einer Koproduktion zwischen einer Schweizer Produktionsfirma und einer internationalen Plattform Druck auf die Produktionsfirma ausgeübt werden, um diesen Vorbehalt für die lineare Ausstrahlung, auch in der Schweiz, und für VoD im Ausland aufzuheben. Der schlimmste denkbare Fall wäre der eines Autors oder einer Autorin, der oder die im Alleingang mit einer Plattform zusammenarbeitet, «denn diese würde ihm oder ihr zwangsläufig ihren Mustervertrag mit einem ‹Buy-out› ohne Vorbehalt aufzwingen», so die Befürchtung von Jürg Ruchti. Dies bedeutet, dass der Autor oder die Autorin eine einmalige Pauschalvergütung erhalte, die gerade knapp dem Standardhonorar für ein Drehbuch oder dem Standardlohn eines Regisseurs oder einer Regisseurin in der Schweiz entspreche.  Das Beispiel des Autors der koreanischen Erfolgsserie «Squid Game», Hwang Dong-hyuk, der ausser seinem Pauschalhonorar keinen Rappen an der Serie verdiente, ist bekannt.

Sollten die Schweizer Autoren und Autorinnen zu stark unter Druck geraten, «Buy-out»-Verträge zu unterzeichnen, kann sich der Direktor der SSA auch ein parlamentarisches Eingreifen vorstellen: «Man könnte im Filmgesetz eine Pflicht für die Plattformen verankern, die Schweizer Vertragsgepflogenheiten zu respektieren, und andernfalls die Ausgaben nicht an ihre Investitionspflicht anrechnen». Dies wäre allerdings erst mittelfristig denkbar, da es Zeit brauche, um die Auswirkungen des revidierten Filmgesetzes zu evaluieren. Ob eine solche Initiative aber im derzeitigen politischen Verständnis eine Chance hätte, ist unsicher.

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