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Im digitalen Theaterraum

Kathrin Halter
17. Mai 2021

Visuelles Spektakel: «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy am Grand Théatre de Genève © GTG

Während der Pandemie haben viele Kulturhäuser mit digitalen Formaten experimentiert. Gestreamte Kulturanlässe sind aber mehr als der Versuch, die Verbindung zum Publikum aufrecht zu halten. Eine Betrachtung nach Stichworten.

Konzerte, Theater und Opern, Ausstellungen, Literatur und natürlich auch Film – alle Kultursparten und Künste haben während der Pandemie die Möglichkeiten digitaler Formate genutzt. Eine simple Auflistung gestreamter Aktionen, Projekte und Anlässe in der Schweiz würde schnell die Länge dieser Heftseiten füllen. Beschränken wir uns deshalb auf thea­trale Formen, auf Beispiele aus dem Schauspielhaus Zürich und dem Grand Théatre de Genève. 

Doch was bedeutet das eigentlich, wenn Theaterstücke und Opern mit filmischen Mitteln dargestellt werden? Welche Formate gibt es? Was bedeutet dies für die Zuschauer? Zuletzt: was könnte davon bleiben nach der Pandemie?  

 

Hybride Formen im Theater…. 

Bei der Übertragung von Theater- und Opernanlässen entsteht etwas Neues, eine hybride Form von Theater und Film. Das ist eben mehr als abgefilmtes (Musik-)Theater. Nur was?

Gewiss ist, dass die Häuser die neuen filmischen Möglichkeiten und Zwänge teils sehr kreativ nutzen. Zwei Beispiele aus dem Schauspielhaus Zürich, das jeweils am Donnerstag unter dem Label «Streamy Thursday» ausgewählte Produktionen aus dem Pfauen und dem Schiffbau zeigt: «Einfach das Ende der Welt» nach Jean-Luc Lagarces Erfolgs­stück ‹Juste la fin du monde› handelt von einem aidskranken Schriftsteller, der nach 12 Jahre seine Familie besucht, um Abschied zu nehmen. Schon in der Einführung zum Stream erklärt Regisseur Christopher Rüping, dass sich eine Vorstellung ohne Publikum anfühle, als würde man im leeren Raum Theater machen. Eine Kamera, die das Spiel auf der Bühne begleite, schaffe für das Ensemble einen Adressaten, «einen Ansprechpartner». Die Handkamera wird aber auch zu einer Mitspielerin: So packt sich Haupdarsteller Benjamin Lillie die Handkamera am Anfang der Vorstellung gleich selber, um in einer rund zwanzigminütigen, praktisch ungeschnittenen Tour de Force die im Schiffbau aufgebaute Familienwohnung zu erkunden. Auf seiner Wanderung gleitet er über Möbel und Krimskram, zoomt auf Erinnerungsstücke und damit auch in die Kindheit des Protagonisten. Im zweiten Teil des Abends bewegt sich die (diesmal von einer Kamera­frau geführte) Handkamera wie eine unsichtbare Beobachterin zwischen den Schauspielern, die sich immer wieder verstohlen oder komplizenhaft nach ihr umdrehen.

Auch die gestreamte Aufzeichnung von «Medea» nach Euripides (Regie: Leonie Böhm) spielt mit der Durchbrechung der «vierten Wand», jener imaginären Grenze zwischen Bühnen- respektive Leinwandgeschehen und Publikum. So blickt Hauptdarstellerin Maja Beckmann in ihrem Monolog oft direkt in die Kamera – auch in Grossaufnahme. So nahe, zumindest physisch nahe, kommt man Schauspielern im Theater nie. Und doch ist das, was hier geschieht, kein «Kino». Das liegt auch an den Methoden der Desillusionierung, der direkten Ansprache der unsichtbaren Zuschauer «irgendwo in der Welt da draussen», die jetzt «wohl auf dem Sofa sitzen und Nüsschen essen», wie Medea mutmasst. 

 

…. und in der Oper

So ganz anders der Stil, in dem das Grand Théatre de Genève Opern fürs Heimkino aufbereitet. Ein beeindruckendes Beispiel ist «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy; die Oper ist noch bis August auf auf www.operavision.eu abrufbar. Das musikalische Liebesdrama, eine Dreieckgeschichte, die sich in den dunklen Bühnenwelten der Performancekünstlerin Marina Abramović ereignet, mit expressiven Tanzchoreographien von Sidi Larbi Cherkaoui, bietet ein visuelles Spektakel sondergleichen. Aufgezeichnet wurde die Inszenierung im Januar 2021 vor leeren Rängen. Dabei pflegt die Bildregie konventionellen Perfektionismus: Geboten wird der jeweils bestmögliche Überblick über das Geschehen, eine ausgewogene, perfekt austarierte Abfolge der jeweils (in Bezug auf die Handlung) relevantesten Aufnahmen. Der Kontrast zum bewusst Spontanen, Unfertigen und Handgefertigten des Schauspielhauses könnte nicht grösser sein. Das Konzept ist es auch. 

 

Live-Stream oder nicht?

Es gibt Anlässe mit einem Verfallsdatum und Angebote, die in Mediatheken zugänglich bleiben. Dahinter steckt mehr als zwei unterschiedliche Geschäftsmodelle. Es geht um eine Grundhaltung: So bietet das Schauspielhaus Zürich bewusst nur Live-Streams ohne Wiederholungen an.  Damit soll der Moment des Einmaligen erhalten bleiben (siehe dazu das Gespräch Seite 12). Gleich halten es das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg oder die Kammerspiele in München. «Theater hat extrem viel damit zu tun, dass es jetzt stattfindet und nicht in einer halben Stunde. Dass es jetzt passiert, und dann ist es auch vorbei», so der Dramaturg des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, Ralf Fiedler, in einem «Zeit»-Artikel. 

Die Vorteile von Mediatheken sind umgekehrt offensichtlich: wir können die Aufführungen ansehen, wenn wir Zeit und Lust haben. Natürlich können die beiden Modelle auch kombiniert werden; so geschieht es auch häufig. Zudem: Die Modelle ändern sich laufend, je nach Verlauf der Pandemie und der Schutzmassnahmen. 

 

Kostenlos oder mit Gebühr?

Das Grand Théatre de Genève bietet seine Aufzeichnungen kostenlos und mit Untertiteln an – auch in der Mediathek von «Operavision», einer Plattform, der 29 Häuser aus 17 Ländern angehören und die von Créative Europe unterstützt wird. Das ist ein bemerkenswert demokratischer Ansatz in einer Kunstform, die in der Schweiz oft mit hohen Ticketpreisen auffällt.

Eine Mischung aus Bezahlmodell und vereinzelten Gratisangeboten bietet das Opernhaus Zürich. Der Video-On-Demand-Katalog umfasst momentan sieben Opern und Ballette; hier werden Streams auch verkauft, für rund 10 Franken. 

 

Ein neues Publikum 

Unbestritten ist, dass Media­theken und erst recht Gratisangebote neues Publikum anziehen. So wurde eine Aufführung des «Deutschen Requiems» von Brahms aus dem Zürcher Opernhaus auf Arte übertragen und von 600’000 Personen verfolgt. Das Opernhaus hat, zum Vergleich, rund 1ʼ100 Plätze. So wird, hoffen Optimisten, neues Publikum auch für die Post-­Pandemie gewonnen. 

Aber auch die Formen der Rezeption ändern und gleichen sich dem Filmkonsum auf dem Sofa an: Herumlümmeln statt aufrecht sitzen, abbrechen bei aufkommender Langeweile oder aus anderen Gründen. 

 

Was bleibt?

Was von den Angeboten bleibt, wissen wir erst dann, wenn die Pandemie ganz vorüber ist. Dass sie alle verschwinden, ist kaum vorstellbar. So schreibt die Süddeutsche Zeitung in ihrer Besprechung von «Pelléas et Mélisande»: «Die Opernhäuser lernen spätestens hier und jetzt, dass sie ihre Produktionen auch in Zukunft als Stream rund um die Welt schicken werden müssen. Denn das Glück vor einem Bildschirm ist zwar ein dezidiert anderes als in einem Musiksaal, aber es kann, siehe Genf, ebenfalls riesig sein. Das wird kein Musikfreund mehr missen wollen.»

 

▶  Originaltext: Deutsch

 

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