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Visionen der Welt

Pascaline Sordet
06. April 2021

«Nostromo» von Fisnik Maxville

Der Schweizer Film wird durch Filmschaffende von unterschiedlichster Herkunft und Kultur geschaffen. Diese Vielfalt macht seinen Reichtum aus. Doch wie sieht das aus deren Sicht aus? Drei Filmschaffende erzählen. 

 

Nicht alle Schweizer Filme werden von Schweizerinnen und Schweizern gemacht, und das ist gut so. Die Nationalität eines Films wird durch eine Reihe von Kriterien bestimmt. In erster Linie zählt die Herkunft der Mittel, der Sitz der ausführenden Produktion und der Anteil des Budgets, der von der Schweiz bezahlt wird. Die Staatsangehörigkeit der Kulturschaffenden spielt eine untergeordnete Rolle, denn wer dauerhaft hier lebt und arbeitet, wird als Schweizer betrachtet.

Wie jedes Jahr werden bei Visions du Réel Schweizer Filme gezeigt. Sie zeugen von einer Geschichte der Immigration und der Durchmischung: Unter den Namen findet man die Ukrainerin Lesia Kordonets, die an der ZHdK studiert hat, die Senegalesin Rokhaya Marieme Balde, die an der ECAL ihren Master macht, und Fisnik Maxville, Schweizer mit kosovarischen Wurzeln. Ihre Lebensläufe sind sehr unterschiedlich, doch sie führen zur Frage: Welchen Platz räumt die Branche diesen Filmschaffenden und ihren Projekten ein?

 

Besondere Erwartungen

Auf diese Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort, denn jeder und jede hat ein anderes Verhältnis zur eigenen Herkunft. Für Fisnik Maxville, der gerade im Kosovo seinen ersten Spielfilm dreht, «ist die Frage der Identität zentral. Einen Film zu drehen ist wie eine Psychoanalyse, die zwar viel Einsatz erfordert, aber auch ein Ergebnis zeigt. Ich kann mich dem, was mich innerlich bewegt, nicht verschliessen.» Rokhaya Marieme Balde hingegen gesteht offen: «Filme über meine Identität machen mich verletzlich, deshalb möchte ich mich nicht ständig mit dieser Thematik befassen».

Fisnik Maxhuni, der seit Kurzem unter dem Pseudonym Fisnik Maxville arbeitet, kam im Alter von fünf Jahren als staatenloser politischer Flüchtling in die Schweiz. Seither hat er die schweizerische und die kosovarische Staatsangehörigkeit erlangt und zwei Dokumentarfilme über die Beziehungen zwischen den beiden Ländern gedreht: «Zvicra» über die Schwierigkeiten der Integration und «Fin de partie» über einen Schweizer Trainer an der Spitze der kosovarischen Fussball-Nationalmannschaft. «Ich betrachte mich selbst als freien Filmemacher, doch gewisse Erwartungen sind schon da», so der junge Regisseur. «Ich muss in eine Schublade passen: Wenn nicht ich diese Themen behandle, wer dann? Natürlich bin ich legitimiert dazu, doch ich möchte mich nicht darauf beschränken.» Bei Visions du Réel zeigt er den Dokumentarfilm «Nostromo» über einen Franzosen, der auf einer kanadischen Insel lebt. Zugehörigkeit ist auch hier das zentrale Thema, wenn auch in einem ungewohnten Umfeld.

 

Diversität, Integration, Legitimität

Mittlerweile ist man sich in der Filmbranche bewusst, dass jeder Blickwinkel subjektiv ist. Die Legitimität des Blickwinkels wurde mehrfach diskutiert, 2020 in Solothurn in einem «Atelier de la pensée» zum Thema «Fremde Länder, fremde Bilder» und an der Berlinale 2021 an einem Diskussionsnachmittag über die Entkolonialisierung des Films. Wie soll ein weisser Dokumentarfilmer auf dem afrikanischen Kontinent filmen? Wie soll ein Cis-Gender eine Trans-Person filmen? Wie kann man nuanciert arbeiten, ohne sich selbst zu zensurieren? Respektvoll sein, ohne den kritischen Geist zu verlieren? Die Grenze ist sehr schmal, und die Umstände können zuweilen etwas kurios anmuten. Der Bachelor-Film von Rokhaya Marieme Balde ist eine Doku-Fiktion über die senegalesische Widerstandskämpferin Aline Sitoé, die «mit Schweizer Material und Schweizer Geldern realisiert wurde, was ziemlich ironisch ist... ein mit Schweizer Mitteln finanzierter anti-kolonialistischer Film.»

Lesia Kordonets, die bei Besuchen oder Dreharbeiten in der Ukraine von ihren Landsleuten nach ihrer Herkunft gefragt wird, sieht in dieser Spannung zwischen Verbundenheit und Distanz «eine gewisse Verfremdung, die für das filmische Schaffen aber ein Vorteil ist». So kann sie die Sachverhalte, die sie interessieren, mit einem zugleich vertrauten und kritischen Auge betrachten.

Die Frage stellt sich auch umgekehrt: Von Filmschaffenden mit Migrationshintergrund wird oft erwartet, dass sie sich mit Themen befassen, die sie direkt betreffen. «Legitimität ist die zentrale Frage, und ich habe keine Antwort darauf», bekennt Fisnik Maxville. «Wenn man bei einer Kommission einen Film einreicht, ist die erste Reaktion immer: Wie gut kennt der Regisseur das Thema? Wie nahe steht es ihm? Kann er es behandeln oder nicht? Unsere Institutionen sind sehr zurückhaltend, wenn Filmemacher versuchen, aus diesem Schema auszubrechen.»

Die Situation ist vielleicht nicht ideal, doch der Kampf um mehr Diversität im Film – der sich bisher vor allem auf die Genderfrage konzentrierte – braucht Zeit. Auf die Frage, was man tun könnte, erwähnt Fisnik Maxville die fehlende Diversität in den Führungsgremien («schweizerischer gehtʼs nicht»), fügt jedoch optimistisch hinzu: «Wenn Leute wie ich, die ein bestimmtes Bild der Schweiz verkörpern, einst als Entscheidungsträger in diesen Institutionen mitwirken, wird sich einiges ändern. Alles ist eine Frage der Zeit, insbesondere bei der Immigration.»

Doch fühlt er sich als Schweizer Filmemacher? «Das ist die grosse Frage», lacht der Doppelbürger. «Ich habe nie versucht, ein schweizerischer oder ein kosovarischer Filmemacher zu sein. Ich wollte einfach meine Geschichten erzählen. Da es viel Geld braucht, um Filme zu drehen, muss man mitspielen und sich für eine Mannschaft entscheiden. Ich bin stolz darauf, in der Schweizer Mannschaft zu spielen, doch ich hoffe, dass man mir auch vertraut, wenn ich zum Beispiel einen dystopischen Film drehen möchte, der an einem unbestimmten Ort spielt.»

 

Schulen als Beispiel der Integration

An den Filmschulen gelingt die Integration der Aussenwelt in den Schweizer Mikrokosmos besonders gut. In jedem Jahrgang findet man StudentInnen aus dem Ausland, und einige von ihnen setzen ihre Karriere in der Schweiz fort. Allein im Bereich des Dokumentarfilms ist da zum Beispiel der Italiener Michele Pennetta, der an der ECAL studiert hat und 2020 bei Visions du Réel einen Film zeigte. Die Kuba-Schweizerin Heidi Hassan, die 2019 am IDFA ausgezeichnet wurde, und die Argentinierin Mari Alessandrini, die in Locarno prämiert wurde, haben beide an der HEAD studiert, genauso wie die Georgierin Elene Naveriani, deren letzter Kurzfilm für den Schweizer Filmpreis nominiert war.

Rokhaya Marieme Balde kam rein zufällig an die HEAD, für ein Austauschsemester während ihrer Filmausbildung in Dakar. Sie blieb dort und drehte ihren Diplomfilm «A la recherche d’Aline», der in Nyon in der Sektion Opening Scenes gezeigt wurde: «Ich wurde immer gut aufgenommen, und auch meine Ideen wurden gut aufgenommen, selbst wenn ich mir anfangs nicht sicher war. Mein Kurzfilm spielt nicht in der Schweiz und ist nicht auf Französisch. Deshalb hatte ich gewisse Bedenken, doch ich war überrascht von der grossen Bereitschaft, sich an Schweizer Filmen zu beteiligen, in denen es nicht um die Schweiz geht. Im Endeffekt kenne ich das Schweizer System viel besser als das senegalesische.» Das senegalesische Autorenkino hat sie nach eigenen Aussagen erst in Genf auf Empfehlung ihrer Professoren entdeckt.

Wird sie den Langfilm, den sie im Rahmen ihres Masterstudiums schreibt und der die Geschichte der Widerstandskämpferin Aline Sitoé Diatta vertieft, mit einer Schweizer Produktion drehen? «Ich werde den Film dort realisieren, wo ich ihn machen kann. Wenn eine Schweizer Firma interessiert ist, wäre eine Koproduktion eine gute Lösung, vor allem da es sich um einen ziemlich aufwendigen Film mit militärischen Angriffen usw. handelt.» Eine pragmatische Einstellung also, die der Vorstellung widerspricht, dass alle StudentInnen davon träumen, nach dem Studium so rasch wie möglich zu neuen Horizonten aufzubrechen.

 

Über das Netzwerk zu den Papieren

Auf die Frage, die ich auch Fisnik Maxville gestellt habe, wann man sich als «Schweizer Filmschaffende» fühlt, antwortet Lesia Kordonets: «Ich wurde in der Schweiz zur Filmemacherin «gemacht». Beruflich bin ich hier verwurzelt. Sollte ich wieder umziehen, müsste ich von Null beginnen. Ich betrachte mich auf jeden Fall als eine Filmemacherin, die etwas zur Schweizer Filmlandschaft beitragen kann. Ich denke nicht, dass sich der Zuschauer beim Filmeschauen die Frage stellt.» Ihr Werdegang war jedoch alles andere als einfach. Nach ihrem Bachelor verweigerten die Schweizer Behörden ihr die Arbeitsbewilligung, mit der Begründung, sie sei zu wenig qualifiziert. Während ihr Diplomfilm «Balazher. Korrekturen der Wirklichkeit» von Swiss Films unter die Kurzfilme des Jahres gewählt wurde und an diversen Festivals lief, sass sie in Zürich fest: «Ich konnte in dieser Auswertungsphase nie mitreisen, da ich sozusagen «Sans-Papiers» war.»

Sie bekräftigt, dass sie nur dank der Bemühungen der Schweizer Filmbranche bleiben und ihren ersten langen Dokumentarfilm «Push­ing Boundaries» drehen konnte, der im nationalen Wettbewerb von Visions du Réel gezeigt wurde. «Ich werde Dschoint Ventschr immer dankbar sein, dass sie mich unter ihre Fittiche genommen haben. Das hat meinen Glauben an mich selbst gestärkt. Ich konnte mit mehr Zuversicht an mein nächstes Projekt herantreten. Wenn es anders gekommen wäre, hätten wir jetzt wohl keinen Grund gehabt, dieses Gespräch zu führen.»

 

▶  Originaltext: Französisch

 

Visions du Réel

«Schweizer Filme: eine Frage der Perspektive»

Panel von Cinébulletin im Rahmen von «Opening Scenes»

Sonntag 18. April, 14:30 – 15:30

Detaillierte Informationen im CB-Branchen-Newsletter

www.visionsduréel.ch

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