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Artikel

Gratwanderungen am Film-Matterhorn


28. Juli 2015

Fragments d’un ancien responsable de « Cinébulletin »

Schnipsel eines ehemaligen Cinébulletin-Betreuers

Von Walter Ruggle

Das Cinébulletin wird 40 und lädt Ehemalige ein, aus ihrer Zeit zu berichten. Ich selber habe meine Stelle vor genau 30 Jahren gekündigt mit der Begründung, dass ich es aufgrund der im Verlauf von zwei Jahren gemachten Erfahrungen als Redaktor unmöglich erachte, das Heft in seiner existierenden Form weiterzuführen. Weil mir die publizistische Plattform der Filmbranche äusserst wichtig erschien, legte ich ein Konzept mit zwei Lösungsvorschlägen bei, was am 24. Juli 1985 zu einer ausserordentlichen Sitzung der Redaktionskommission im Zürcher Zunfthaus zur Saffran führte. Gemäss Eigendefinition wird in diesem historischen Gebäude «jeder Gast Teil einer Geschichte».

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Es wäre schön, wenn's bei dir etwas politisch wäre, sagte man mir bei der Anfrage um einen Beitrag, aber politisch sei's bei mir ja sowieso. Ich nehme das als Lob entgegen in einer Zeit, in der «politisch» als Schimpfwort gilt. In Verruf gebracht haben es jene, die besonders laut behaupten, sich ums Wohl der Schweiz zu kümmern. Wenn ich mir das genauer überlege, dann sind es dieselben Kreise, die auch «kulturell » gern als Schimpfwort benutzen. Dabei könnte es so lustvoll und farbenfroh sein, das Politische. Und das Kulturelle sowieso. Beides lebt von der Wahrnehmung von Vielfalt und vom Austausch, was individuell zu neuer Erkenntnis führen und uns alle weiter bringen kann.

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Von 1983 bis 1985 war ich Cinébulletin- Redaktor unter dem Herausgeber «Schweizerisches Filmzentrum» (heute Swiss Films), wo man die Silhouette des Matterhorns zum Erkennungszeichen für den Schweizer Film gemacht hatte. Im Orwell-Jahr 1984 schrieb ich in einer Art Zwischenbilanz zur Situation des Heftes: «Man dotiert ein Organ mit einer Drittel- Stelle und erwartet Vollzeitbeschäftigung. Man spricht von redaktioneller Freiheit und gewährt sie genau so lange, wie sie sich im eigenen Gesichtsfeld bewegt und nur den je eigenen Feinden an den Kragen rückt – darüber drückt man dem Redaktor jeweils den wärmsten Dank aus.»

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Es war die erste feste Redaktionsstelle eines so genannt freien Journalisten, der seit den späten 1970er Jahren für unterschiedlichste Medien geschrieben hatte. Ich wusste, dass es eine Bergtour werden würde, aber eine derart anspruchsvolle Gratwanderung hatte ich nicht erwartet. In der Zeit vor mir hatte sie vorübergehend auch ein erfrischendes Trio Infernal gewagt und den Massstab an Spielfreude hoch gesetzt: Der Journalist Fritz Hirzel, der Filmschaffende Georg Janett und der Gewerkschafter Jim Sailer. Sie liebten das Dialektische und glaubten, dass es in der Kultur einfach wäre, Fragen zu stellen und in Frage zu stellen.

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In meiner Zeit als Gratwanderer am Matterhorn des Schweizer Films traten in Bern innerhalb von sechs Monaten der Sektionschef Film und sein wichtigster Mitarbeiter zurück, weil ihnen die Situation im damaligen BAK als kreativitätslähmend erschien. Die Filmtechniker veranstalteten einen oscarschmelzreifen Auftritt an den Solothurner Filmtagen, um auf ihre prekäre Arbeitssituation aufmerksam zu machen. Man diskutierte die notwendig gewordene Auswahl der Werkschau von Solothurn, um ein Jekami zu verhindern. Und es stürmte heftig im Schweizerischen Filmzentrum, da sein Leiter für seine Kletterroute auffallend viel Papier benötigte, wo man in den Bergen doch vorzugsweise mit wenig Ballast unterwegs ist. Ein an sich sympathischer Filmproduzent kaufte ein von Filmbetrieben wie dem Filmkollektiv, der Filmcooperative und dem Filmtechnikerverband belebtes Haus an der Zürcher Josefstrasse, um fast alle auf die Strasse zu setzen und ausgerechnet dort seine Idee eines «Filmhauses» einzurichten. In der Westschweiz wurde eine Zweigstelle des Filmzentrums eingerichtet und in Zürich machte man sich für ein festes kommunales Kino stark. Auch das Cinébulletin sammelte Unterschriften, denn über die Notwendigkeit des Filmpodiums war man sich so einig, wie in der Forderung nach mehr Geld fürs Filmschaffen.

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Attacken wie jene, bei der ein älterer Filmemacher sich beklagte, dass ein jüngerer Kollege im Cinébulletin sich zu den Filmen in Solothurn äussern konnte, gehörten zum Redaktionsalltag. Sie hielten Dutzende auf Trab, weil solche Reaktionen jeweils mit Kopien an Verbände, Sekretariate und Kommissionsmitglieder verschickt wurden. Es herrschte im Hintergrund ein grosses Mitteilungsbedürfnis und die Annahme, dass man einen Branchenblattmacher auf diese Art umzingeln und willfährig machen kann. Dazu muss man wissen, dass das in der Zeit vor Computer und Internet noch recht aufwändig war, weil «cc» wirklich noch «carbon copy» bedeutete oder einen Gang zum Kopierladen. Aber es gab schon damals jenes Phänomen, das ich heute als Verleiher aus neuer Perspektive erlebe: Futterneider grasen einige am Fuss des Film-Matterhorns.

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Weil eine Szene wie die Filmszene aus vielen Seilschaften besteht, die alle zum Gipfel streben, aber sich auffallend oft irgendwo in ihren eigenen Seilen in der Steilwand verheddern, gab es beim Heftmachen auch eine erstaunlich grosse Freiheit. Wenn erst mal klar ist, dass man es eh nicht allen richtig machen kann, beginnt das Machen umso mehr Spass zu machen. Beim zunehmend amüsierten Blättern in den Heften der 1980er Jahre stosse ich auf meine Definition vom «Organ, das es eigentlich allen richtig machen muss und es permanent niemandem richtig machen kann, weil alle doch dauernd etwas anderes als richtig betrachten würden, als andere es tun.» Und ich habe Hefte vor mir, die mir schwindelerregend erscheinen und an denen ich sowohl gestalterisch als auch inhaltlich vieles hätte besser machen können.

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40 Jahre Cinébulletin sind keine Selbstverständlichkeit. Irgendwie darf die Filmszene stolz sein darauf, durch alle Wirren hindurch und über all die Jahre hinweg diese ihre eigene Plattform aufgebaut und sich geleistet zu haben. Gäbe es sie nicht, sie müsste geschaffen werden, weil der freie Informations- und Gedankenaustausch innerhalb einer Branche wichtig ist. Blättert man heute in den alten Heften, so blättert man auch in einem Archiv des Schweizer Films mit unglaublich viel Rohmaterial, das die Wanderungen durch die Zeit dokumentiert. Weil dieser Text im Heft zum Festival Locarno 2015 erscheint, sei zur Illustration David Streiff als Festivaldirektor von Locarno 1983 zitiert, der in seiner Festivalvorschau von einer Morettina schrieb, als dem «vielgeschmähten, unterdessen aber durchaus funktionsfähigen Provisorium ». Man lasse die Wörter «unterdessen » und «Provisorium» auf der Zunge langsam vergehen, wenn man in der prallen Sonne vor der zum Kino umfunktionierten Saalsporthalle auf Einlass wartet. Es hat ja auch etwas Beruhigendes zu sehen, dass Provisorien unterdessen problemlos über dreissig Jahre existieren können. Mein letztes Heft erschien im Juli 1985 zum Filmfestival Locarno. Auf dem Titelbild ein Bauernsohn, der seinen Vater umarmt. Fredi Murers «Höhenfeuer» sollte in jenem Jahr den Goldenen Leoparden gewinnen und für den Schweizer Film eine wichtige Marke setzen.

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Von Haus aus Stadtzürcher, aufgewachsen im Kreis Cheib, schien ich den Föderalismus ernst zu nehmen, berücksichtigte ich als Redaktor doch in zwei Jahren immerhin drei Kantone für die Redaktionsanschrift. Es fing an mit dem Postfach in Baden/AG, ging über den Sonnenhof in Kammersrohr/SO und mündete an der Alten Dorfstrasse in Niederweningen/ ZH. Nachspiel 1998: Beim gefühlt 241. Rettungsversuch des Cinébulletins, schlug ich, längst Redaktor einer grösseren Tageszeitung und damit aussenstehender Beobachter, ein neues Konzept vor mit einer Zeitschrift zum unabhängigen Kino und einer branchenorientierten Beilage für die Fachwelt. Die Idee fand Anklang und wurde lancierungsreif entwickelt, sie fiel einer branchentypischen Intrige zum Opfer, wobei immerhin die Unabhängigkeit der Trägerschaft neu gewährleistet wurde, was das Heftmachen doch sichtbar einfacher zu machen schien. Alles Gute also dem Cinébulletin und seiner heutigen Seilschaft – die Gräte werden alles überstehen,

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