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«Die Schweiz scheint ihre Muster zu wiederholen»


01. Juni 2015

Wie Jan Gassmann und Michael Krummenacher auf die Idee gekommen sind, mit Regiekollegen einen Kollektivfilm über die Schweiz zu drehen. Und was es dabei für Diskussionen gab.


Das Gespräch führte Kathrin Halter


Was hat euch auf die Idee gebracht, einen Ensemblefilm über die Schweiz zu initiieren?

Michael: Wir haben uns an der HFF München kennengelernt, wo wir beide studiert haben; Jan Dokumentarfilm, ich Spielfilm. Dort haben wir uns oft über die Schweiz unterhalten; wir bekamen auch einen Spiegel vorgesetzt durch deutsche Zeitungen und Kommilitonen, die uns fragten, wie und ob wir uns als Filmemacher zu radikalen politischen Entwürfen wie dem Minarettverbot oder der Ausschaffungsinitiative verhalten. Uns wurde klar, wie wichtig es wäre, uns in einem Film dezidiert mit unserem Heimatland auseinanderzusetzen, und zwar gemeinsam mit anderen Regisseuren.


Wen habt ihr angefragt?

Jan: Es waren einerseits Freunde aus dem Filmbereich oder dann Regisseure, deren Filme wir kannten. Das Echo auf die Anfrage war dann gross. Wir merkten auch, dass es ein Bedürfnis gibt, politisch Stellung zu beziehen und sich mit dem eigenen Land auseinanderzusetzen. So kamen etwa 30 bis 35 Stoffideen zusammen, von denen wir, zusammen mit dem Produzenten Stefan Eichenberger und Michèle Wannaz, neun auswählten.


Welche Auswahlkriterien gab es?

Jan: Die Idee der Introspektion. Unterschiedlichste Schweizer Figuren, um eine Mentalität zu ergründen. Zudem überlegten wir uns, was zusammen funktionieren könnte: Wir wollten nicht neun Kurzfilme, sondern etwas Gemeinsames schaffen.

Michael: Einerseits braucht es eine gute Mischung an Stoffen und Milieus. Andererseits suchten wir nach etwas, worin eine gemeinsame Haltung zum Ausdruck kommt, das war uns von Anfang an wichtig.


War der Sturm von Beginn weg gesetzt?

Michael: Ja, als äussere Handlung, die die Episoden zusammenhält und vorantreibt. Das Filmende hingegen kam erst etwa in der Hälfte der Entwicklung dazu.


Am Schluss gibt es eine deutliche Anspielung auf Markus Imhoofs «Das Boot ist voll», auf jene Szene beim Grenzübergang, wo jüdische Flüchtlinge nach Nazideutschland zurückgeschickt werden.

Jan: «Das Boot ist voll» erzählt von einem dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte; andererseits scheint die Schweiz ihre Muster zu wiederholen. Als bewusstes Zitat war das jedoch nicht gemeint: Wir haben etwa hundert Grenzübergänge angeschaut und zuletzt ohne es zu merken die gleiche Brücke (in Diepoldsau) ausgewählt wie in «Das Boot ist voll» – klar wurde uns das aber erst während der Dreharbeiten (lacht).


Als Wetterphänomen ist die grosse Wolke über der Schweiz ja reine Fiktion. War das Genre des Katastrophen- und Endzeitfilms für euch vor allem ein Vorwand, um von der unserer Gegenwart, dem Ist-Zustand, zu erzählen?

Jan: Wir fühlten uns jedenfalls viel weniger dem Genre als den Figuren verpflichtet, einem Kaleidoskop der Schweiz mit verschiedenen Milieus. Und der Frage natürlich, was diese äussere Situation bei den Figuren auslösen könnte.

Michael: Was wir fiktionalisieren, ist wie eine Horrorvision, auch eine Metapher dafür, was geschehen könnte, wenn die Schweiz so weiter macht wie bisher. Die Schweiz ist ein sehr sicheres Land, auf den ersten Blick jedenfalls; die Fiktion half uns, dieses Sicherheitskonstrukt zu zerstören und dadurch einen neuen Blick auf das Land zu finden. Also Ja: Es ging eher um den Ist-Zustand als um die Fiktion. Dabei wollten wir aber nicht, dass die Wolke gewissermassen aus dem Ausland kommt, sondern aus den Bergen, aus dem Inneren der Schweiz heraus entsteht, als etwas, das schon lange da hockt...


Worüber gab es, auf der inhaltlich politischen Ebene, am meisten Diskussionen unter euch Filmschaffenden?

Michael: Als wir uns fragten, was eigentlich unsere gemeinsame Haltung zur Schweiz ist, kamen wir nach langen Diskussionen auf den Begriff Isolation: Dass sich die Schweiz, politisch gesehen, immer stärker isoliert – was wir alle ablehnen. Die Idee der Isolation fingen wir dann an, auf unsere Figuren zu beziehen.

Jan: Beschäftigt hat uns auch, wie man überhaupt einen politischen Film machen kann und ob es diesen überhaupt gibt. Jeder suchte in seiner Episode quasi nach seiner Helvetia, einer eigenen Parabel – diese mit dem Ganzen zusammenzubringen war dann das Anspruchsvolle.

Michael: Einen Themenfilm wollten wir dabei vermeiden. Also: eine Geschichte über das Bankengeheimnis, eine über die Einwanderungsfrage und so weiter. Das war uns zu plakativ und hätte bei der Kürze der Episoden auch zu wenig gebracht. So haben wir uns von Themen ab- und mehr den Figuren zugewandt.


Zum Begriff Generationenfilm: Stammt der von euch? Es ist ja auch ein Marketingargument, wenn man vom «Statement einer Generation» spricht..

Michael: Es war schon eine Entscheidung, zu sagen, wir bleiben in unserer Altersgruppe, also ungefähr zwischen Ende 20 und Mitte 30. Dabei merkten wir, dass es viel mehr interessante und talentierte Leute gibt, als wir dachten; wir hätten auch mehr als 35 Leute anfragen können. Das Projekt hat es schon geschafft, dass sich der Kontakt zwischen Filmemachern unserer Generation, ohne den Begriff überstrapazieren zu wollen, intensiviert hat. Das war ein sehr schöner Nebeneffekt.

Jan: Ein Manifest haben wir aber nicht unterschrieben (lacht).


Würdet ihr wieder einen solchen Kollektivfilm drehen? Oder ist der Aufwand schlicht zu gross?

Michael: Als nächstes Projekt würde ich das nicht gleich wieder machen wollen... Im grossen und ganzen war die Erfahrung aber sehr bereichernd und schön. Auch weil das Projekt Leute zusammengebracht hat. Und weil dabei Sachen entstehen können, die vielleicht nicht möglich wären, wenn alles aus einer Feder kommt. Anstrengend war es, weil extrem viele demokratische «skills» gefordert sind, man sehr viel telefoniert und mailt, um viele kleine Probleme zu besprechen, die man sonst alleine löst.


Man erfährt nirgends, welche Episode von wem stamm. Gehört das quasi zur Philosophie des Kollektivfilms?

Michael: Wir haben sehr dafür gekämpft, dass aus den Episoden ein Ganzes wird. Das war auch ein Chrampf. Deshalb wollten wird den Film nicht nachträglich quasi wieder in seine Einzelteile zerlegen. So bleibt der Film eine Errungenschaft von uns allen.

Jan: Natürlich wird man irgendwann erfahren, welche Episode von wem stammt. Doch die Diskussion, die wir anstossen möchten, soll über den gesamten Film funktionieren. Ein Kollektivfilm soll nicht zu einem Showreel für zehn Regisseure werden. Dieses Prinzip haben wir über alles gestellt.

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