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Der Standpunkt von Mark Reid

Célia Héron
03. Januar 2017

Seit 2006 leitet Mark Reid das Education Departement am British Film Institute. 2012 war er federführend bei «Screening Literacy», einer von der Europäischen Kommission finanzierten Evaluation der Filmbildungsprogramme in Europa. Ausserdem ist er Ko-Direktor von DARE, einer Forschungsgruppe, welche die Auseinandersetzung mit der künstlerischen Ausbildung im Allgemeinen fördert. Mark Reid wird in Solothurn an der Tagung «Film­bildung jetzt!» teilnehmen, die den Zugang Jugendlicher zum Film diskutiert. Die Veranstaltung ist dreigeteilt: Ein Panel beschäftigt sich mit der Frage, was die Schweizer Politik und Filmbranche aus den Film­bildungsinitiativen in der EU lernen könnten. Der Verein filmkids.ch informiert über die Erfahrungen bei der Produktion eines abendfüllenden Spielfilms mit sechzig Jugendlichen. Es werden sechs junge Schauspieler vorgestellt, die im Rahmen von «Junge Talente.ch» ge­fördert wurden. Und die Zauber­laterne präsentiert eine neue Folge ihrer Serie «Kleine Kinoschule», diesmal von Frédéric Mermoud. 

Dienstag, 24. Januar, 10:15 bis 16: 45
Kino im Uferbau Solothurn 

 

Das Gespräch mit Mark Reid führte Célia Héron

Wann in Ihrem Leben wurde der Film­­­unter­richt­ zu einem wichtigen Anliegen, wo Sie doch englische Literatur lehren wollten?
Von meinem Werdegang her bin ich Literaturdozent. Am Anfang meiner Laufbahn bat man mich, einen Kurs «Englisch und Medien» zu geben. Doch wir Dozenten waren nicht ausgebildet, um Medien oder Film zu lehren, diese Ausbildungsgänge gibt es praktisch nicht. Zu jenem Zeitpunkt wurde mir bewusst, wie wichtig die Filmbildung ist. Was mich danach besonders faszinierte, war die Tatsache, dass wir im 21. Jahrhundert in einer Welt leben, die von bewegten Bildern beherrscht wird. Also braucht es doch eine Bildung auf diesem Gebiet.

Weshalb ist Filmbildung Ihrer Ansicht nach unverzichtbar für Junge?
Sie sollte wie das Lesen und Schreiben ein Teil der Alphabetisierung sein, damit die junge Generation die Welt, in der sie lebt, verstehen lernt. Die Kinder und jungen Erwachsenen von heute wissen übrigens schon sehr viel über den Film. Fast jedes dreijährige Kind besitzt bereits eine Sammlung seiner liebsten DVDs und kann verschiedene Genres unterscheiden: Sie haben eine unglaublich gute Lernfähigkeit. Wir sollten diese anerkennen, wertschätzen und darauf aufbauen.

Welche Initiativen erzielten in England gute Resultate?
Die Stadt Bradford hat einen Kurs «Einführung in die Medien» für Sieben- bis Zehnjährige eingeführt, dessen Lektionen auf Kurzfilmen basieren. Diese Kurse waren in Sachen Alphabetisierung und Sprachverständnis sehr erfolgreich. Das zweite Beispiel betrifft die Klubs «Into Film», die nach der Schule stattfinden und den fünf- bis achtzehnjährigen Schülerinnen und Schülern verschiedene Arten von Film näher bringen. Von denen gibt es 7000 bis 8000 im ganzen Land. Und schliesslich wurden vor fünf Jahren die BFI Film Academies lanciert, die den Filmbegeisterten zwischen 16 und 19 Jahren eine Ausbildung anbieten, die als Sprungbrett in die Filmindustrie dient. In England gibt es 54 solcher Akademien. 

Wie misst man den Erfolg solcher Massnahmen?
In den Primarschulen prüft man, ob die Schülerinnen und Schüler besser lesen und schreiben können. In den Filmklubs «Into Film» misst sich der Erfolg an der Angebotsvielfalt, die den Jungen zur Verfügung steht. Würde man die Kinder und Jugendlichen auswählen lassen, würde eine Mehrheit von ihnen grosse Hollywood-Produktionen sehen wollen. Es ist jedoch wichtig, dass sie auch anderes kennenlernen. In Bezug auf die BFI Academy wird der Erfolg in Zukunft an der Diversität abzulesen sein: Welche soziale, ethnische Herkunft, welche Profile werden sich in 10 bis 15 Jahren in der Filmindustrie durchsetzen? 

Braucht es Initiativen eher auf nationaler, lokaler  oder individueller Ebene?
Es ist unser Ziel, die besten Voraussetzungen zu schaffen, damit alle eine Filmbildung erhalten. Am wirksamsten ist es wohl, auf nationaler Ebene zu handeln, mit Schulprogrammen, da ja alle Kinder zur Schule gehen. Doch dazu muss man die Bedeutung dieses Schulfachs und dessen Auswirkungen auf eine ganze Reihe von Fähigkeiten aufzeigen können.

Mit welchen Argumenten versuchen Sie die Behörden zu überzeugen?
Die beiden wichtigsten sind erstens die Entwicklung des Publikums (der Zuschauer), zweitens die bessere Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Doch könnte ich allein bestimmen, würde ich mich auf ein viel grundlegenderes Argument konzentrieren: Die Filmbildung ist Teil der Alphabetisierung, wie das Lesen und Schreiben. Das ist das Wichtigste – und wenn dies zu fähigeren Arbeitskräften und neugierigeren Kinobesuchern führt, dann umso besser.

Wann, hoffen Sie, wird die Filmbildung zur Norm werden?
Das wird noch lange dauern. Die erste Bibel wurde im 15. Jahrhundert gedruckt, und es dauerte 500 Jahre, bis das universelle Recht auf Alphabetisierung und Schulbildung verankert war. Wer weiss, vielleicht werden die Leute in hundert Jahren sagen: «Kannst du dir das vorstellen? Vor 100 Jahren gab es an Schulen noch nicht einmal einen Filmunterricht!» Es kann sogar sein, dass man sich diese Frage in 50 Jahren stellen wird. Ich weiss es nicht.

Gibt es Vorbilder in Europa, an denen sich andere Länder orientieren könnten?
Nordirland. Die Regierung hat in den letzten 10 bis 15 Jahren ein hervorragendes Filmbildungsprogramm ausgearbeitet: das Moving Image Arts Program für 14- bis 19-Jährige. Sie hat den Film in die Ausbildungsgänge Information/Communication/Technology (ICT) integriert, gute Festivals organisiert, Klubs gefördert usw. Ein Land also, das das Thema zu einer Priorität gemacht hat, im Gegensatz zu England. (AdR.: Grossbritannien setzt sich aus vier Ländern zusammen, die alle ihr eigenes Schulprogramm haben.)

Was meinen Sie: Weshalb geben sich gewisse Länder in dieser Sache mehr Mühe als andere?
Was Nordirland betrifft, so handelt es sich um ein kleines Land, was die Dinge möglicherweise vereinfacht. Vor dem Hintergrund der «Troubles» (AdR.: Bezeichnung für den  Nordirlandkonflikt) versucht das Land vielleicht auch, die Bevölkerung über die Kultur und die Filmbildung zu einen. Das gilt auch für Kroatien, das sich von einem Konflikt erholt und in letzter Zeit viel in die Filmbildung investiert hat. Alain Bergala erläutert diese These in seinem Buch «L’hypothèse Cinéma» (Cahiers du Cinéma, Dezember 2016): Kunst und Kultur ist ein wirksames Instrument, um durch Kriege entstandene Klüfte zu überwinden – wie in den 50er-Jahren in Frankreich, nach dem Zweiten Weltkrieg.

Welche Erkenntnisse aus Ihrem Bericht über die Filmbildung in Europa sind für die Schweiz interessant?
Wir gingen davon aus, dass die Filmbildungspolitik in der Regel auf nationaler Ebene zu gestalten ist. Doch in der Schweiz, in Deutschland oder in Belgien erschweren die Dezentralisierung oder die Existenz verschiedener Sprachregionen die Umsetzung nationaler Strategien: Die Kulturen sind derart unterschiedlich, dass es kompliziert ist, irgendetwas vorzuschreiben. Übrigens ist das ein Problem, das wir auch in Europa kennen! 

Was müsste man tun, damit sich die Schweiz innerhalb Europas für eine bessere Filmbildung einsetzen kann?
Als Brite möchte ich Ihnen eine Anekdote erzählen: Am Tag nach dem Brexit erhielten wir Mails von europäischen Kollegen, die uns schrieben: «Wir werden weiterhin mit euch arbeiten, und zwar in so vielen Bereichen wie möglich». Damit möchte ich sagen, dass wir über den europäischen politischen Rahmen hinaus handeln können.

Wie denn?
«Le Cinéma, Cent ans de jeunesse» der Cinémathèque in Paris ist ein gutes Beispiel (AdR.: ein internationaler Austauschplan für die Film­bildung): Das Projekt ist selbsttragend und selbstverwaltet. Ein weiteres Beispiel ist die Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerks Europa Cinemas. Meine Empfehlung an die Adresse der Schweizer: Ihr bleibt Europäer und könnt an vielen internationalen Programmen teilhaben, die nicht von der EU-Politik abhängen.

Wir haben viel über die Filmbildung der Jungen gesprochen. Was wird für die Erwachsenen getan?
Nicht viel! Als ich meinen Bericht über die Filmbildung fertigstellte, bat ich um Bilder zur Illustration der verschiedenen Initiativen. Ich erhielt etwa 50 Fotografien aus 20 Ländern. Auf einem einzigen Bild waren Erwachsene zu sehen: eine Gruppe von 50- bis 60-jährigen Frauen, die einen Film machten. Es stimmt, wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Kinder und Jugendlichen. Möchten Sie eine ganze Generation erreichen, müssen Sie sich zwingend auf die Schulprogramme konzentrieren. Man weiss ja nicht, wo die 40- oder 60-Jährigen zu finden sind. Dazu kommt, dass es wirksamer ist, die Massnahmen für eine Bevölkerungsgruppe zu ergreifen, die noch das ganze Leben vor sich hat.

▶  Originaltext: Französisch

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