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Artikel

Kondensiertes Leben

Kathrin Halter
03. Januar 2017

Jaqueline Zünd wirkt aufgeladen und aufgestellt. Wir treffen uns in ihrem Atelier, eben ist sie aus Amsterdam zurückgekommen. «Almost There», ihr Zweitling, lief dort als Weltpremiere am Internationalen Dokumentarfilm-Festival. Im Januar folgt die Schweizer Premiere an den Solothurner Filmtagen, und bereits im Dezember beginnen die Dreharbeiten für ihren Dokumentarfilm «2,8 Tage»: Es ist gerade viel los in letzter Zeit. So müsste es eigentlich immer laufen, sagt Zünd. Wenn sich ein Projekt ans nächste schliesst. 

Dass es damit einmal vorbei ist, davon handelt ihr neuer Film: «Almost There» erzählt vom Älterwerden, wenn mit der Aufgabe von Arbeit oder einer Beziehung plötzlich Lebenssinn verloren geht. Was nun? Jacqueline Zünd porträtiert drei Männer um die sechzig, die – sozial abgeschnitten und scheinbar nutzlos geworden – nochmals etwas Neues suchen: Bob, der Amerikaner, kauft sich ein Wohnmobil und reist alleine durch die kalifornische Wüste; Yamada, der Japaner, versucht sich mit einem Dutzend Hobbys, bis er eine neue Aufgabe findet. Und Steve, den britischen Standup-Comedian, verschlägt es ins spanische Benidorm, wo er nochmals als Drag-Queen auftritt. 
 

Bob auf der Spur

Mit Steve hat vieles angefangen – die Geschichte dazu zeigt schön, wie die Regisseu­rin zu ihren Ideen findet. Zuerst wollte sie nämlich einen Film über Benidorm drehen, dieses sonnig-triste Altersdepot an der spanischen Küste. Eine Fotografie von Tobias Madörin inspirierte sie dazu. Sie reiste hin und sprach mit vielen älteren Leuten, fand deren Geschichten über endlose Ferien aber meistens furchtbar langweilig. Da ging sie deprimiert in eine Bar – und entdeckte Steve, der dort auftrat. Und wusste: Das ist er!

Auch die anderen Protagonisten fand sie erst nach langer Suche. Manchmal war es eine Lektüre, die zu einer Idée fixe führte. Dass man pensionierte Männer in Japan «feuchtes Laub» nennt, weil diese an ihren Ehefrauen kleben wie Laub an den Schuhen, führte sie zu Yamada. Auch von den «Snow Birds», jenen amerikanischen Rentnern, die mit Wohn­mobilen Zugvögeln gleich der Wärme nachreisen, hatte sie erst gelesen. Dann setzte sie sich mit ihrem Kameramann Nikolai von Graevenitz in einen Camper und folgte den Alten, Bob auf der Spur. 

Sie inszeniere kondensiertes Leben, sagt sei einmal, als wir über ihre Arbeitsweise reden. Hat sie ihre Figuren einmal gefunden, beobachtet Jacqueline Zünd lange und sucht nach passenden Situationen, die ein Lebensgefühl verdichten. Daraus entsteht ein Buch. Das ist natürlich kein Direct Cinema, da wird manches inszeniert – zum Beispiel Steve, der in seinem roten Kostüm frühmorgens im menschen­leeren Benidorm ankommt. Für Zünd «ein Sinnbild für seine Reise». 

In ästhetischen, streng kadrierten Bilder schafft Zünd ein Hybrid aus Dokumentar- und Spielfilm. Eine Mischung aus realen Menschen und Szenen, die sie fast spielfilmartig inszeniert. Voraussetzung dieser Arbeitsweise sei allerdings, dass sie ihre Protagonisten gerne habe, gut kennt und diese ihr vertrauen. 
 

Die beste Antwort auf Benidorm  

Kino sei für sie eine Reise, sagt sie einmal. Schon früher war die 1971 geborene Zürcherin viel unterwegs. So lebte sie zwischen zwanzig und dreissig immer wieder im Ausland: Nach einem halben Jahr Paris folgte die Ringier Journalistenschule, danach besuchte sie die London International Film School. Nach zwei Jahren (1996-98) als Redaktorin beim SRF-­Jugendmagazin «Zebra» lebte Zünd zwei Jahre lang in Rom, wo sie unter anderem ein Drehbuch schrieb und Experimentalfilme machte. Ein halbes Jahr Berlin noch, wo 2003 ihr Sohn auf die Welt kam, dann kehrte sie nach Zürich zurück. Dort entstanden zunächst Werbefilme sowie ihr erster langer Film «Goodnight Nobody» (2010). 

Für die Wahl der Stoffe gab es immer auch persönliche Gründe. Unter Schlaflosigkeit, Thema von «Goodnight Nobody», litt schon ihre Mutter. «Almost There» hat auch etwas damit zu tun, dass sich mit vierzig das Bewusstsein in ihr Leben schlich, dass auch ihr Leben einmal ein Ende nimmt. 

Auch hinter «2,8 Tage», ihrem neuen Dokumentarfilmprojekt, steht eine persönliche Erfahrung: Wie so viele andere Kinder getrennt lebender Eltern pendelt auch ihr Sohn zwischen zwei Wohnungen, zwischen dem Vater und ihr. Von dieser Erfahrung will Zünd in «2,8 Tage» erzählen, und zwar konsequent und ausschliesslich aus Kindersicht. Wie heikel das Thema sei, habe sie gemerkt, als sie für den Film recherchierte. Man rede kaum darüber, zum Beispiel in der Schule; eine Trennung werde von vielen immer noch mit Versagen konnotiert, was eigentlich merkwürdig sei. Und sie fügt an: «Ich glaube, das hat auch mit unserem Land zu tun. Diese Scheu, in eine Kamera zu blicken, zu reden, für sich und sein Leben selbstbewusst einzustehen. Das können zum Beispiel Amerikaner viel besser.» Jetzt aber freut sie sich erst einmal darauf, mit Kindern zu drehen. Und in einer neuen Arbeit aufzugehen. Das ist die beste Antwort auf Benidorm. 

Kathrin Halter

«Almost There» läuft in Solothurn am 21. und 24.1

▶  Originaltext: Deutsch. Copyright Bild: Ayse Yavas

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