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360 Grad - eine Umschau in der virtuellen Realität

Pascaline Sordet
07. November 2016

Bei Festival Tous Ecrans gibt es neue Sektion für virtuelle Realität. Welche Projekte und Subventionen existieren rund um das neue Medium, die immersiven 360-Grad-Videos?


Von Pascaline Sordet

Dieses neue Medium zu beschreiben ist die erste Schwierigkeit. «Man sollte keine Vergleiche ziehen, obwohl Begriffe fehlen», sagt Emmanuel Cuénod, der Direktor des Festivals Tous Ecrans, gleich zu Beginn unseres Gesprächs im Festivalzentrum, wenige Tage vor dem Startschuss. Statt sich in Beschreibungen zu verlieren, setzt er mir ein weisses Headset, ein Smartphone und Kopfhörer auf. Ich sitze auf einem Bürodrehstuhl und weiss gar nicht, wo ich hinschauen soll, mein Blick wandert von rechts nach links, ich bin von Planeten umgeben, als schwebte ich mitten im Weltraum. Eine Stimme aus der realen Welt dringt zu mir: «Und: siehst du den Kleinen Prinzen?» Nein. Ein Fehlstart, doch kurz darauf erkenne ich ihn als animierte Figur allein auf seinem Asteroiden mit einer Rose, die er zum Wachsen bringen möchte. Ich umkreise seinen Planeten, nähere mich, entferne mich, zucke zusammen oder wende den Blick ab, diskret wie eine Fliege und geleitet von den Tönen, die meine Aufmerksamkeit erregen. Als Zuschauerin tauche ich in eine Geschichte und nicht nur in einen Ort ein. Der Film umgibt mich dreidimensional, 360 Grad. Ich befinde mich «im» Film – eine kleine Revolution. 

Schon vor zwei Jahren fragte man sich, ob diese neue audiovisuelle Form das Kino grundlegend verändern würde. Heute kann man sagen, dass die angekündigten Umwälzungen ausgeblieben sind. Weshalb? Weil die virtuelle Realität ein Medium für sich ist und nicht darauf abzielt, die klassischen Produktionen zu ersetzen. Der Produzent Stefan Bircher von Shining Pictures erklärt, dass zwar in letzter Zeit in der Schweiz und weltweit viel von virtueller Realität die Rede war, doch dies vor allem, weil sich das Material weiterentwickelt hat: «Wir hatten schon vor 15 Jahren ein Projekt mit zehn 35-mm-Kameras. Doch die Technik ist in den letzten Jahren besser geworden, und mit GoPro, Youtube und Google Chrome ist sie auch leichter zugänglich.» 
 

Der Zugang zum Markt ist besser geworden

Heute ist es möglich, Produktionen in virtueller Realität zu einem angemessenen Preis aufzunehmen, zu editieren und zu verbreiten. Die Firma Samsung ist in dieser Sparte sehr aktiv und stimuliert die kreativen Köpfe, auch in der Schweiz, indem sie Inhalte bestellt, die mit ihren Geräten kompatibel sind.

Die Materialpreise sind weiter gesunken, und der Zugang zum Markt ist besser geworden. Zu mehreren Märkten, muss man sagen, denn die virtuelle Realität ist transversal: Sie betrifft die Video­spiele, die Werbung, das Marketing, das Fernsehen und auch die Medizin und den Tourismus. Michel Vust, der für das Pro-Helvetia-Programm Mobile zuständig ist, weist übrigens darauf hin, dass «die Vergnügungspärke die Erforschung der virtuellen Realität vorangetrieben haben.» Facebook kündigte Anfang Oktober ebenfalls an, demnächst eine grosse Informatikplattform für virtuelle Realität einrichten zu wollen.

Michel Vust erwähnt den Erfindungsgeist, der schon ganz zu Beginn die schweizerischen Projekte prägte: «Sehr schnell kamen innovative Ideen auf, die unsere Aufmerksamkeit erregten. Die Schweizer sind selten die ersten, die im Kulturbereich Neuerungen einführen.» Die Schnittstelle zwischen technologischer Innovation und Kulturschaffen scheint sie aber wirklich zu interessieren. Das Unternehmen MindMaze, das aus der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) heraus entstand und auf dem Gebiet der Neurowissenschaft tätig ist, Apelab mit seinen Erfahrungen im Bereich der virtuellen Realität, Artanim und sein Bewegungserfassungssystem sind einige der Schweizer Start-ups, deren Projekte rund um die Welt gingen. Nun soll «das Eigenständige gefördert werden, was keine Neuauflage von Kino, Fernsehen oder Transmedien ist», sagt Emmanuel Cuénod.
 

Immersion oder virtuelle Realität?

Werden sich die Konsumenten an die virtuelle Realität gewöhnen? Oder ist sie nur eine Modeerscheinung? Oder ein Nischenprodukt für Videospiel-Fans? Michel Vust von Pro Helvetia kann sich vorstellen, dass sich die virtuelle Realität rasant ausbreitet, dann aber wieder an Elan verlieren wird, «wie die 3D-Projektion, die keine kreative Revolution verursacht hat.» Ein Echo auf die Position der  Werbefirmen, die daran  erinnern, dass die virtuelle Realität ohne gute Geschichten nur Effekthascherei bleibt (siehe Seite 14). Emmanuel Cuénod präzisiert, dass die Immersion im weiteren Sinn ein «dauerhafter Trend» sein könnte, eher als die heutigen 360-Grad-Produktionen. «Wir werden sehen, ob die virtuelle Realität die technologische Antwort auf die Immersion ist, oder ob etwas Neues, Einfacheres aufkommt. Mein Gefühl sagt mir, dass wir immer weniger Hardware haben werden und in 10, 20 oder 30 Jahren das Objekt schrittweise verschwinden wird. Zwischen der Technologie im Moment ihrer Entstehung und dem, was die Kulturschaffenden daraus machen, bis zu dem, was durch die breite Nutzung aus ihr wird, liegen drei Zeiträume.» Und in jedem ergeben sich andere Fragen: zuerst technologische, dann, mit dem Verschwinden des Hors-champ, künstlerische – «die erste grosse Herausforderung, der sich die Filmschaffenden seit dem Tonfilm stellen müssen», sagt Emmanuel Cuénod – und schliesslich auch ethische Fragen, insbesondere, wenn noch andere Sinne als das Sehen angesprochen werden. Wird man eines Tages Zuschauer leiden lassen können?

Originaltext: Französisch

 

Die Kunstschulen als Innovations­stätten

Am Festival Tous Ecrans von letzter Woche konnte man sehr schöne Projekte der Genfer HEAD sehen. Die in einem Workshop zum Thema Geistergeschichten entwickelten Projekte zeigen, dass sie nicht unverhältnismässig hohe Summen verschlingen und dass die Studenten bereit sind, sich mit diesem Medium auseinanderzusetzen. Der Master-Lehrgang in Media Design macht die HEAD zu einem wichtigen Akteur in der Ausbildung für kreativ Schaffende. Kein Zufall also, dass die vier Gründer von Apelab von dort kommen. In der Deutschschweiz hat die ZHdK mit Bachelorstudenten den Kurzfilm «Gegen die Regeln» produziert, eine achtminütige Fiktion, die mit sechs GoPro-Kameras gefilmt wurde. Die Institution bietet schweizweit die einzige Ausbildung für Videospiele an. Die Schulen haben einen Bildungsauftrag, doch darüber hinaus spielen sie eine wichtige Rolle für die technische Entwicklung. Neben den Hardware-Produzenten, die sich Inhalte wünschen, gibt es die Universitäten und Kunstschulen, die auf Entwicklung setzen, sagt Michel Vust. «Birdly», die Simulation eines Vogelflugs, war ein Forschungsprojekt der ZHdK, bevor es erfolgreich in die Lüfte stieg. Auch in der Weiterbildung bewegt sich einiges. Focal hat vor Kurzem CrossFOCAL eingeführt, einen neuen Bereich unter der Leitung von Nicole Schröder, der sich auch mit Fragen der Interaktivität und der nicht-linearen Narration befassen wird. Das genaue Programm steht noch nicht fest, doch die Stiftung plant für den kommenden Februar eine erste Veranstaltung zum Thema virtuelle Realität und immersiver Film.

 

Wo man die Projekte sehen kann

Auf YouTube ohne spezielle Ausrüstung, beispielsweise die dokumentarischen Produktionen von RTS wie «Gotthard 360» oder «Le Goût du risque».
Mit Headset und Smartphone (Google Cardboard, Samsung VR Gear) über iOS- und Android-Applikationen.
Mit Headset und Joysticks (Oculus Rift, HTC Vive, PlayStation VR) wie bei einem Video­spiel.
Am (letzten) Festival Tous Ecrans, das eine Auswahl von internationalen Projekten zeigte.
Im Frühjahr am World VR Forum in Crans-Montana, das den Fokus auf den industriellen Aspekt der virtuellen Realität richtet.

 

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