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Weil das Alter Freiraum lässt

Pascaline Sordet
07. November 2016

Es ist grau und regnet Bindfäden. Als Eva Furrer in Yverdon ankommt, sucht sie im einzigen Café im Bahnhof Schutz und lässt sich von den Geräuschen der Registrierkasse und der Popmusik aus dem Fernseher einlullen. Einen Schirm hat sie nicht dabei. Sie bestellt einen Chai-Tee, den gibt es hier aber nicht. Ein Bitter Lemon und ein Lächeln tun es auch.

Eben hat sie sich vom – aufgelösten – Verein Cinedolcevita freigemacht, doch Entschleunigen kommt für sie nicht in Frage. Seit der Vereinsgründung war sie dessen Präsidentin und gleiste in siebzehn Schweizer Städten Kinoprogramme für Senioren auf. Das erste in Biel mit der Unterstützung von «Pro Senectute». Nun haben die lokalen Kinos die Verantwortung übernommen, das Seniorenkino ist inzwischen gut etabliert, sodass Eva Furrers Sohn ihr empfohlen hat, sich zurückzuziehen. «Mit 72 Jahren möchte ich nicht mehr für die ganze Administration zuständig sein. Natürlich kann ich dieses Projekt in die Kleinstädte tragen, in denen es kaum Angebote für Senioren gibt. Das werde ich auch tun, aber weniger intensiv.»


Späte Berufung

Alles begann in der Filmgilde Biel, die nächstes Jahr ihr 70-jähriges Bestehen feiert. Mit der Wahl eines neuen Vorstands vor vier Jahren übernahm eine jüngere Generation von Filmbegeisterten den Filmklub. Eva Furrer erzählt mit ihrer sanften Stimme auf Französisch: «Ich war die Älteste, sie könnten alle meine Kinder sein. Das Programm hat sich verändert, ist gewagter geworden und bietet nicht mehr nur Wohlfühlkino.» Die Rentnerin schätzte diese Öffnung, stellt aber fest, dass einige Senioren aussen vor gelassen wurden. «Ich kenne Leute in meinem Alter oder ältere, die am Abend nicht mehr ins Kino gehen oder ihr Abonnement aufgeben, weil ihnen die Filme nicht mehr gefallen. Ich fragte mich, was man für ältere Menschen tun könnte, vor allem für jene, die noch Untertitel lesen können und Originalversionen sehen wollen.» So entstand das Projekt Cinedolcevita.

Die gelernte Buchhändlerin und Dokumentalistin Eva Furrer begann sich im Er­­wachsenenalter für Film zu interessieren. «Mit Achtzehn lebte ich in Paris und ging regelmässig in die Cinémathèque. Ich war ein Fan des französischen Films. In den 60er-Jahren hatte ein Film von Claude Lelouch einen grossen Einfluss auf mich. Und die Sprache gefiel mir. Schon als ich vierzehn war, hatte ich eine Brieffreundin in Lausanne.» 

Gegen Ende ihres Berufslebens arbeitete sie mit Pfarrer Hans Hodel als Sachbearbeiterin im Bereich Film bei den Reformierten Medien in Zürich. Sie reiste viel, besuchte Filmfestivals und war Mitglied mehrerer Jurys: «Der Film wurde wirklich zu meiner Leidenschaft.» Eine späte Berufung für eine unabhängige und interessierte Frau, die während fast zehn Jahren ausschliesslich ehrenamtlich tätig war, weil sie keine Anstellung fand, die ihr wirklich passte, und sie nicht nur des Geldes wegen arbeiten wollte.


Eine Büchse voller Ideen

Sie sieht es als Vorteil, dass sie erst spät zum Film kam, weil ihr das Alter viel Freiraum lässt: «Wäre ich nicht so alt, wie ich bin, hätte ich nie all das tun können, was ich in den letzten Jahren getan habe, beispielsweise an die Festivals gehen. Entweder muss man alt oder kinderlos sein.» Und mit einem kleinen Seufzer gesteht sie, dass sie eigentlich gerne selber Filme gemacht hätte: «Ich habe eine kleine Büchse voller Ideen für Kurzfilme.» Und setzt hinzu, umtriebig, wie sie ist: «Ich müsste nur einen Regisseur finden.»

Während sie die Vergangenheit Revue passieren lässt, wird klar, dass es nicht an Projekten für die Zukunft fehlt. Eva Furrer ist Vorstandsmitglied von Cinélibre, dem Dachverband der Filmklubs, und obwohl der Verein Cinedolcevita aufgelöst wurde, bleibt das Label bestehen. So stellt sie weiterhin Programme für die Städte Biel, Solothurn, Bern und Thun zusammen. «Das ist es, was ich am liebsten und ausschliesslich machen möchte.» 

Sie hat mittlerweile ein Gespür für jene Filme, die ihrem Publikum gefallen dürften und mischt die Zutaten mit Feingefühl: ein Ende, das nicht deprimiert, aber bewegt, berührende Filme eher als Komödien, Kurzfilme, ab und zu Dokumentarfilme, vor allem aus der Schweiz, die ein Fenster zur Welt öffnen, ohne dass man sich vom Sofa bewegen muss. Dass sie gleich alt ist wie die Zuschauer, hilft ihr bei der Auswahl. Sie sei offen für vieles, sagt sie, doch sie wisse ziemlich genau, was sie ihren Zuschauern zumuten könne.

Im Laufe des Gesprächs sagt Eva Furrer, dass sie eben aus Zagreb zurückgekehrt sei, demnächst in die Wüste fahren werde, die sie seit 1968 nicht mehr gesehen habe, und erzählt mit Vergnügen über die Reiseabenteuer mit ihren Kindern.  «Ich muss alles, was ich noch unternehmen möchte, jetzt tun.» Zeit mit ihren Enkeln verbringen, Arabisch lernen, das sie bereits schreiben und lesen kann, sich für Flüchtlinge engagieren, aktiv sein, immer in Bewegung bleiben.  Sie könnte doch ihre Autobiografie schreiben, werfe ich ein, worauf sie lächelt und meint: «Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich zwei oder sogar drei Leben gehabt.»

Pascaline Sordet

Originaltext: Französisch

 

 

Duo Maxima

Kathrin Halter
20 September 2016

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