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Cinéforom bringt den Dialog über Diversität im Filmsektor wieder in Gang

Adrien Kuenzy
22. September 2023

© Julie / Julot Wuhrmann

Am letzten Locarno Film Festival wies ein Podiumsgespräch der Fondation romande pour le cinéma (Cinéforom) auf bedenkliche Geschlechterungleichheiten in der Schweizer Filmbranche hin. Eine Tagung soll nun konkrete Veränderungen erlauben.

Eine der Aufgaben, der sich Cinéforom seit Anfang 2022 verschrieben hat: Anhand von Fakten geeignete Instrumente entwickeln, um die Gleichstellung zu fördern.  «Zunächst konzentrieren wir uns auf die Sammlung entsprechender Daten», so die Projektverantwortliche Geneviève Rossier, die bei Cinéforom für Diversität zuständig ist. Die Stiftung hat per 1. Januar 2023 einen Fördersatz von 80 Prozent für von Frauen oder Geschlechterminderheiten getragene Projekte eingeführt (siehe Cinébulletin Nr. 538). Dies ist eine von mehreren konkreten Massnahmen, darunter eine geplante Tagung, an der die Themen Belästigung, Arbeitsbedingungen und Nachwuchsförderung behandelt werden sollen (siehe Kasten).

Die Diskussion wurde bereits am letzten Locarno Film Festival anlässlich einer von Cinéforom organisierten Gesprächsrunde mit dem Titel «Diversität und Drehbedingungen» angestossen. Das Ziel war, aufgrund der Erfahrungen der Teilnehmenden den Austausch rund um die Geschlechtervertretung im Film zu intensivieren. Initiativen wie das SWAN-Verzeichnis – ein Online-Inventar von Frauen in der audiovisuellen Branche – und «Safe spaces culture» wurden ebenfalls thematisiert. An der Diskussion beteiligten sich Carmen Jaquier, Regisseurin, Christelle Michel, Produktionsleiterin, Max Karli, Produzent bei Rita Productions, Sonia Rossier, erste Regieassistentin, Nicole Barras, Geschäftsleiterin des Schweizer Syndikats Film und Video (SSFV), Denis Séchaud, Präsident des Verbands Schweizerischer film- und videotechnischer Betriebe (FTB) sowie Margaux Lorier, Ko-Präsidentin des «Collectif 50/50».

 

Beunruhigende Feststellungen

Die von Cinéforom im Vorfeld präsentierten Daten sind ein erstes Mittel, um das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen in der Branche aufzuzeigen. Die Diskrepanz wird sichtbar, sobald man die eingereichten Anträge zur Drehbuch- und Herstellungsförderung untersucht, und zieht sich weiter bis zu den tatsächlich produzierten und im Kino gezeigten Filmen. So wurden zum Beispiel weniger als ein Drittel der zwischen 2012 und 2022 erschienenen, von Cinéforom geförderten Westschweizer Langfilme von Frauen realisiert.

Das Alter spielt beim Geschlecht der Regisseure und Regisseurinnen ebenfalls eine entscheidende Rolle. In der Altersgruppe von 20 bis 35 Jahren stammen die Anträge auf Herstellungsförderung etwa zu gleichen Teilen von Frauen und Männern, während bei den über 35-Jährigen der Frauenanteil deutlich kleiner ist. «Dieser Trend hat weniger mit der aktuellen Zeit oder Generation zu tun, sondern vielmehr mit der Lebensphase», so Stéphane Morey, Generalsekretär von Cinéforom.

Auch die Produktionsfirmen scheinen bei den Ungleichheiten eine Rolle zu spielen. Zwischen 2013 und 2022 reichten von Männern geführte Produktionsfirmen rund 600 Förderanträge für Männerprojekte und nur knapp 150 Anträge für Frauenprojekte ein. Bei Produktionsfirmen unter weiblicher Führung war das Geschlechterverhältnis unter den eingereichten Projekten ausgeglichener.

 

Drehbedingungen

Zahlen sind jedoch immer nur beschränkt aussagekräftig. Anlässlich der Podiumsdiskussion zeigten die Aussagen der Teilnehmenden weitere komplexe Situationen auf, die deutlich machen, wie wichtig Gleichstellungsmassnahmen für die Filmberufe sind. Sonia Rossier hat als erste Regieassistentin an über 40 Filmen mitgewirkt und kennt die Hektik an Filmsets nur zu gut. Sie beschreibt «Machtdynamiken wie in einer grossen, dysfunktionalen Familie, wo sich Frauen, trotz Regeln für ein sicheres Arbeitsumfeld, oft nur schwer entwickeln können». Und fährt fort: «Es wird erwartet, dass man sich selbst übertrifft, unter Druck arbeitet, am Drehort isst und übernachtet. Das kann zu Entgleisungen führen. Das Problem liegt auch darin, dass an einem Filmset die Produktion als Anlaufstelle für jegliche Anliegen dient. Vielleicht wäre es gut, diese Funktion auszulagern, um problematische Situationen zu vermeiden.» Produzent Max Karli hat interne Regeln eingeführt, um die Arbeitsbedingungen am Set und die Kommunikation mit der Produktion zu verbessern. «Ein Opfer könnte aber Zweifel haben, ob es von einer internen Stelle Hilfe erhält», unterstreicht er. «Die Anlaufstelle spielt hier eine entscheidende Rolle.» Er schlägt schliesslich vor, ein gemeinsames Leitbild zu entwickeln, um Kommunikationshindernisse auszuräumen und das Gesetz einzuhalten, «insbesondere für grosse Projekte.»

 

Diversität und Perspektiven

Christelle Michel brachte weitere wichtige Aspekte hervor: «Natürlich fordert die Betreuung des Personals  viel Einsatz, und eine schlechte Vorbereitung führt zu beträchtlichen Belastungen für die Mitarbeitenden am Set. Der sinkende Frauenanteil bei den über 30-Jährigen beunruhigt mich aber auch.» Denis Séchaud stellt in Bezug auf die Postproduktion fest: «An der letzten Generalversammlung des FTB war keine einzige Frau anwesend. Natürlich kann man die mangelnde Geschlechtervielfalt in unseren Berufen darauf zurückführen, dass Technik historisch gesehen von Männern entwickelt wurde. Wir haben Mühe, weibliche Nachwuchskräfte zu finden, und der soziale Aspekt spielt dabei auch eine Rolle: Gerade für junge Praktikantinnen kann es schwierig sein, in ein männlich dominiertes Umfeld einzusteigen.»

Nicole Barras, die den SSFV vertritt, untersuchte in diesem Zusammenhang die Lohnskala und das Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Freizeit. Sie stellte fest, dass es Bemühungen gibt, um diese Aspekte besser zu vereinen, indem Lösungen wie zum Beispiel «Jobsharing», Arbeitsplatzteilung,  geprüft werden. Zudem hob sie positive Entwicklungen hervor, insbesondere die Ausweitung ihrer Gewerkschaft auf neue Berufskategorien.

Margaux Lorier von «Collectif 50/50» beschrieb die aufschlussreiche französische Perspektive . Das Kollektiv widmet sich der Gleichstellung in der Film- und audiovisuellen Industrie. In Frankreich wurden in Folge der #MeToo-Bewegung verschiedene Massnahmen umgesetzt: «Derzeit gibt es unter anderem einen Gleichstellungsbonus: Dem CNC wird eine Vereinbarung mit einer Punktetabelle für die verschiedenen Stellen vorgelegt. Wenn die Geschlechterverteilung ausgeglichen ist, erhält der Film einen Bonus von 15 Prozent. Dieses System hat sich seit 2018 bewährt. Das ‹50-50-Verzeichnis›, in dem alle Kontakte zusammengefasst sind, fördert ebenfalls die Diversität an Filmsets.»

ECAL-Absolventin und Regisseurin Carmen Jaquier realisierte als junge Mutter praktisch gleichzeitig zwei Langfilme. Ihre Erfahrungen fasste sie wie folgt zusammen: «Während des ersten Drehs kümmerte ich mich zugleich um mein Kleinkind. Viele sagten mir, es sei schön zu sehen, dass so etwas möglich ist, doch ehrlich gesagt war es sehr schwierig, beides unter einen Hut zu kriegen. Beim zweiten Dreh, der weit weg von zu Hause stattfand, beschloss ich, meine Mutterschaft während drei Monaten nicht zu thematisieren. Um dies durchzuhalten, musste ich mich selbst nicht als Mutter betrachten – das würde ich heute anders machen. Ein positiver Aspekt des Films ‹Foudre› ist, dass wir bereit waren, alle Bereiche des Realisationsprozesses zu hinterfragen. Ich weiss aus Erfahrung, dass die Suche nach neuen, unerfahrenen Talenten oft sehr lohnend ist. Das ist nicht schwierig, es braucht einfach Zeit und Einsatz. Für die Stelle der Kamerafrau mussten wir in Frankreich suchen und dem Impuls widerstehen, in der Schweiz einen Mann zu rekrutieren.»

 

Lesen Sie auch: Gespräch mit Geneviève Rossier

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