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Die Geschichte mitten im Geschehen einfangen

Adrien Kuenzy
15. Mai 2024

In «Sorry Cinema» thematisiert Ahmed Hassouna sein Unvermögen Filme machen zu können. © Fonds Masharawi

Ein Teil des Projekts «Ground Zero» des aus Gaza stammenden palästinensischen Filmemachers Rashid Masharawi wurde am letzten Festival Visions du Réel gezeigt. Die ersten Ausschnitte aus dem Film und die Gedanken des Regisseurs geben einen Einblick in Geschichten, die von der Realität in Kriegszeiten erzählen.

Während der Vorstellung von «Ground Zero» am letzten Festival Visions du Réel war der Saal der «Usine à Gaz» erstaunlich spärlich besetzt. Die Begeisterung war jedoch  beim Publikum wie bei den Präsentierenden spürbar. Unter ihnen war der aus Gaza stammende palästinensische Filmemacher Rashid Masharawi, der in Ramallah lebt und das Projekt leitet. Ende 2023 stattete er 20 Filmschaffende des Gazastreifens mit Kameras aus, damit sie ihren Alltag verewigen und die Verbindung zu ihrer Geschichte stärken können. 

Zum Zeitpunkt des Gesprächs in Nyon befanden sich die 20 Kurzfilme, die sich zu einem einstündigen Gesamtwerk zusammenfügen, noch in der Postproduktion. Nur eine kleine, exklusive Auswahl der Werke wurde am Festival gezeigt, wie «Hill of Heaven» von Kareem Satoum. In diesem Dokumentarfilm besucht der Regisseur das Flüchtlingslager von Deir al-Balah und versucht, die Bruchstücke einer in alle Himmelsrichtungen verstreuten Erinnerung wieder zusammenzufügen. «No» von Hana Awad taucht in die Strassen von Gaza-Stadt ein, wo die Regisseurin mit ihrem Kameramann Ahmad  einen Glücksmoment einfängt. Inmitten der Ruinen und des ohrenbetäubenden Lärms taucht wie durch ein Wunder eine Melodie auf – das Leben. 

Am Filmmarkt von Cannes bot sich die Gelegenheit, alle 20 Filme zu entdecken, darunter auch den Dokumentarfilm «Out of Frame» von Nidaa Abu Hasna. Er erzählt die Geschichte von Raneen Al-Zarei, einer bildenden Künstlerin aus dem Norden des Gazastreifens, die mit ihrer Familie während der israelischen Bombenangriffe nach Rafah fliehen musste. Zurück in ihrem zerstörten Atelier versucht sie, einige Werke zu retten und spricht dabei über die Kernthemen ihrer Arbeit. In «Obsession» zeichnet Thaer Abu Zubaydah den beängstigenden Alltag von Saeed, der sich allmählich an die Omnipräsenz der israelischen Drohnen gewöhnt, deren unaufhörlichem Lärm er Tag für Tag ausgesetzt ist. Sobald jedoch das Geräusch verstummt, wird er von zunehmender Angst ergriffen, sodass er ohne das bedrückende Brummen nicht mehr schlafen kann. «Jad and Natalie» von Aws Al-Banna gibt Einblick in das Leben eines Theaterschauspielers aus Gaza, der in sein zerstörtes Quartier zurückkehrt. Dort findet er seine Verlobte Nour unter den Trümmern eines Hauses begraben. Seine Hochzeitspläne sind auf einen Schlag zerstört, und der Mann ist sprachlos vor Schock. «24 Hours» von Alaa Damo begleitet den jungen Musab aus Gaza, der erschüttert ist, als er auf dem Weg in ein vermeintlich sicheres Gebiet nur knapp den Bombenangriffen entkommt.

 

Über den Krieg hinaus

«All diese Geschichten reichen über den Krieg hinaus», betont Masharawi während eines Gesprächs am Tag nach der Vorstellung am Festival Visions du Réel. «Unser Ziel war es, jeden und jede der Filmschaffenden eine spezifische Geschichte erzählen zu lassen, die formell packend ist und persönlich berührt. Wir wollten nicht nur Fakten berichten, wie sie für gewöhnlich in den Medien dargestellt werden, sondern authentische und persönliche Geschichten teilen.»

Das Projekt «Ground Zero», das im Lauf des Konflikts nach den Angriffen vom 7. Oktober 2023 entstand, möchte so den einzigartigen Blickwinkel der Bewohner und Bewohnerinnen von Gaza wiedergeben und ihre Erinnerungen bewahren. «Seit der Entwicklungsphase der Filme haben wir mit jedem und jeder Filmschaffenden intensive Gespräche über den Inhalt geführt. Wir sprachen über Orte und Drehtechniken und vermittelten bei Bedarf die nötigen Fachkenntnisse. Einige der Mitwirkenden mussten wir während des ganzen Prozesses begleiten, denn mangels einer Filmschule in Gaza haben sie keine umfassenden Kenntnisse im Filmemachen.»

 

Filmstill aus «Sorry Cinema» von Ahmed Hassouna. © Fonds Masharawi

 

Vor Ort

Die Teams wurden vor Ort von Koordinatoren und Koordinatorinnen unterstützt, die ihnen die nötigen technischen Hilfsmittel und das erforderliche Personal beschafften sowie die Budgets verwalteten und überwachten. Diese Fachleute stellten auch die Übermittlung der Daten aus Gaza heraus zur Postproduktion sicher. Masharawi betont: «Während des Kriegs ist die digitale Datenübermittlung eine echte Herausforderung. Manchmal funktioniert es während mehrerer Stunden, dann wieder haben wir fünf Tage lang gar keine Internetverbindung. Es braucht viel Geduld, denn auch ein Unterbruch von wenigen Minuten kann den ganzen Prozess verzögern. Zuweilen benötigt man einen ganzen Tag, um eine einzige Datei hochzuladen. Es ist jeden Morgen wie eine Lotterie.»

Masharawi fährt fort: «Die Dreharbeiten waren schwierig. Wie wir alle haben die Teammitglieder Grundbedürfnisse, die befriedigt werden müssen: Nahrungsmittel und Holz zum Heizen finden, die Sicherheit der Familie gewährleisten. Einige haben während der Dreharbeiten Angehörige verloren. Wir unterstützten sie moralisch, um sie zum Weitermachen zu ermuntern. Wir fühlen uns ihnen und ihren Sorgen sehr verbunden. Eine der Regisseurinnen musste sich zum Beispiel auch um die Probleme ihrer aufgebrachten Tochter kümmern und Medikamente für ihre Mutter beschaffen. Wir mussten ihnen zuhören, mit ihnen sprechen und unsere Hilfe anbieten, auch ausserhalb des filmischen Rahmens.»

Um dieses Projekt ins Leben zu rufen, gründete Masharawi den Masharawi-Filmfonds für Filme und Filmschaffende in Gaza. Die vom Projekt generierten Einnahmen kommen vollumfänglich diesem Fonds zugute. Auch andere Partner beteiligen sich, und es wurde eine Spenden-Kampagne bei privaten Geldgebern durchgeführt. Persönlichkeiten wie der Schweizer Filmemacher Nicolas Wadimoff (Akka Films) und die tunesische Produzentin Dora Bouchoucha, die Jurymitglied von Visions du Réel 2024 war, tragen in ihrem Rahmen zur Verbreitung von «Ground Zero» bei.

Gemäss der französischen Produktionsgesellschaft Coorigines Production, die mit der Koordination, der administrativen Verwaltung und der Postproduktion in Frankreich betraut ist, beruht der Erfolg des Projekts auf dem «schnellen und bedingungslosen finanziellen Engagement der Partner, die diese Initiative unterstützen wollten». Laura Nikolov, Gründerin von Coorigines Production, fährt fort: «Das Konzept, dass jeder der 20 verschiedenen Filmschaffenden eine einzigartige Facette der Situation zeigt, mit der er oder sie konfrontiert ist, bringt das Gemeinsame ans Licht, das alle verbindet. Dieses Mosaik vermittelt ein Gesamtbild der Situation vor Ort, mit allen Überlegungen, die sie anstösst: über den Menschen, seine Würde und die Hoffnung, an die er sich klammert.» 

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