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Zehn Regisseure, ein Film


29. Juli 2015

Comment dix réalisateurs parviennent à coréaliser un film ?« Heimatland », long-métrage catastrophe sur la Suisse, sélectionné en compétition internationale cette année, est le fruit d’une genèse inhabituelle.

Wie dreht man einen Film im Kollektiv? «Heimatland», der Schweizer Beitrag im Internationalen Wettbewerb von Locarno, ist sehr ungewöhnlich entstanden. Ein Katastrophenfilm über die Schweiz.

Von Kathrin Halter

Und dann, etwa nach einer Stunde, sagt einer diesen Satz, auf Baseldeutsch: «Endlich läuft mal was, ich finde es geil. Die ganze Truman Show da. War ja klar, dass wir das nicht verdienen...» Der Mann steht mit seiner Freundin vor einem geplünderten Laden in Basel; tote Vögel fallen vom Himmel, es ist düster und kalt. Eine Sturmwolke ballt sich über der Schweiz, und alle warten darauf, dass es losgeht; die Angst mischt sich mit der Lust am Untergang und ergreift sie alle. Und während der Flughafen schliesst und das Benzin ausgeht, eine Million Flüchtlinge sich zu den Grenzen bewegt und die Dagebliebenen sich in Schutzkeller zurückziehen, wird jeder auf sich selbst zurückgeworfen. Oder er sagt endlich, was er schon lange denkt: Mit diesem insularen Schweizersein kann es nicht weitergehen; es fühlt sich falsch an und so illusorisch wie in einer Kulisse.

«Heimatland» zeigt den Ausnahmezustand anhand seiner Figuren, einer von Albträumen bedrängten Polizistin und einem Taxifahrer, einer Gruppe Rechtsnationaler und einer Versicherungsbeamtin, einer alten Frau, die sich in ihrer Wohnung einschliesst oder einem jungen Paar, das sich an Raverparties in Endzeitstimmung ergeht. Und die meisten, das ist das Bemerkenswerte an diesem Schweizerischen Katastrophenfilm, wirken wie normale Menschen: lebensecht. Da treten uns keine Ideenträger oder Figurenkonzepte mit Sprechblasen entgegen, um Themen wie Fremdenangst oder Flüchtlingspolitik abzuhandeln. Wo «Heimatland» zum Plakativen neigt, liegt das nicht an den Figuren, sondern am metaphorischen Klima: Die drohende Wolke hält exakt vor der Schweizergrenze inne. Anderseits scheint die Wolke nicht viel mehr als ein Vorwand für die Handlung zu sein, was Hitchcock humorvoll den «McGuffin» nannte, um mit den Mitteln des Endzeit- und Katastrophenfilms von etwas anderem zu erzählen: einer Angst im Land. Und einem Unbehagen gegenüber einer Schweizer Isolationspolitik, das die zehn Regisseure des Projekts vereint.

Auf der Suche nach Geschichten, die passen

Ungewöhnlich war die Herangehensweise beim Projekt, das es nun in den Internationalen Wettbewerb von Locarno geschafft hat. Zwei Regisseurinnen (Lisa Blatter und Carmen Jaquier) und acht Regisseure (Gregor Frei, Jan Gassmann, Benny Jaberg, Michael Krummenacher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp und Mike Scheiwiller) aus der West- und Deutschschweiz, alle zwischen Ende Zwanzig und Mitte Dreissig, haben sich zu einem Kollektivfilm verbündet. Das Besondere an ihrem Vorgehen liegt unter anderem darin, dass gerade kein klassischer Episoden- oder Omnibusfilm entstanden ist, mit einer Abfolge von in sich geschlossenen Einzelteilen. Sondern ein Ensemblefilm, der die einzelnen Episoden zu einem Ganzen verwebt. Also: kein «Showreel» von zehn Einzelkämpfern, wie sich Jan Gassmann, einer der beiden Initiatoren des Projekts, ausdrückt. Sondern ein gemeinsames Werk.

Doch wie dreht man einen Ensemblefilm mit zehn Autorenfilmern und ursprünglich ebenso vielen Drehbüchern? Wer hat da geführt und wer den Überblick bewahrt?

Begonnen hat alles vor etwa fünf Jahren an der HFF München, wo sich die Regisseure Michael Krummenacher («Hinter diesen Bergen», «Sibylle») und Jan Gassmann («Chrigu», «Off Beat») beim Studium kennenlernten. Nicht zuletzt die Aussensicht, der distanziertere Blick auf die Schweiz, hat die beiden auf die zunächst noch abstrakte Idee gebracht, einen «dezidiert politischen Film» über die Schweiz zu machen, und zwar gemeinsam mit anderen Filmern ihres Alters (siehe dazu das folgende Gespräch).

Mit ihrer Idee sind die beiden dann zu Stefan Eichenberger, dem dreissigjährigen Berner Produzenten von Contrast Film gelangt; später sind noch die Produzenten Ivan Madeo (ebenfalls von Contrast Film) und Julia Tal (von 2:1 Film) dazugestossen.

Dann wurden rund dreissig etwa gleichaltrige Regisseure angeschrieben mit der Bitte um ein Exposé zu einer Episode. Von den eingereichten 27 Entwürfen hat man dann, gemeinsam mit der Dramaturgin Michèle Wannaz und Eichenberger, neun ausgewählt. Entscheidendes Kriterium der Auswahl war Abwechslungsreichtum im Ganzen, eine Vielfalt an Themen, Figuren und Milieus. Die Idee, dass Autoren auch noch repräsentativ nach Geschlecht oder Sprachregionen vertreten sein sollten, hat man laut Eichenberger bald aufgegeben. Wichtiger war, dass sich die Geschichten verbinden liessen und zusammenpassten.

Wie aber entstehen aus neun Drehbüchern eines? Die Einzelteile seien in der Weiterentwicklung teils noch stark verändert worden, sagt Eichenberger. Als so genannte Head Writer behielten Krummenacher und Gassmann das letzte Wort. Zwar habe man Änderungen oft noch mit dem ganzen Team diskutiert. Typisch schweizerische Kompromisse habe es aber keine gegeben, versichert Eichenberger. Und Konflikte? Die gab es, sogar zur Genüge; einig wurde man sich nicht immer. Die Diskussionen drehten sich laut Eichenberger vor allem um den Aufbau des Films – sowie später beim Schnitt darum, welche Szenen weggelassen werden sollten; der erste Rohschnitt dauerte immer noch drei Stunden.

Gedreht wurde während dreier Monate, von September bis Dezember 2014, Episode auf Episode, mit drei Kameraleuten (Simon Guy Fässler, Denis D. Lüthi und Gaëtan Varone). Auch diese haben sich untereinander abgesprochen, um einen einheitlichen visuellen Stil zu schaffen. Das Kernteam – Beleuchtung, Ausstattung, Kostüm, Ton und Maske – blieb konstant. Den Rohschnitt machten die Regisseure noch selber; dann kam Kaya Inan ins Spiel, der Cutter des Gesamtfilms.

Grundsätzlich blieb die künstlerische Leitung während des ganzen Produktionsprozesses bis hin zu den Farbkorrekturen bei Krummenacher und Gassmann. Natürlich sei man manchmal auch unter Beschuss geraten, sagt Krummenacher; Autorenfilmer seien halt gewohnt, selber zu entscheiden. Gassmann nennt es die Quadratur des Kreises: «Es wurde viel verhandelt und abgesprochen – und ging gleichzeitig darum, immer den gesamten Film im Blick zu behalten.»

Dass man mit Ausnahme von wenigen Schauspielern hauptsächlich mit Laien, also mit neuen Gesichtern gearbeitet habe, sei allen ein Anliegen gewesen. Die «logische Schweizer Schauspielbesetzung» habe man jedenfalls vermeiden wollen.

Die Postproduktion wurde dann übrigens im Studio von 8horses gemacht, dem Zürcher Kollektiv, dem auch Kameramann Simon Guy Fässler und Regisseur Tobias Nölle angehören. Kollektives Denken war nicht zuletzt bei den Löhnen gefragt: Mit 1,9 Millionen Franken wurde der Film, angesichts der komplexen Produktionsstruktur, sehr günstig produziert. Dies war deshalb möglich, weil sich die Crew bereit erklärte, zu günstigeren Konditionen zu arbeiten. Wäre der Film voll kalkuliert worden, hätte er mindestens eine Million Franken mehr gekosten – aber wäre nie zustande kommen, so Eichenberger. Umso mehr freut man sich jetzt auf die Premiere in Locarno – und hofft auf ein glückliches Ende des Experiments.

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