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Von der Kunst, den Nachwuchs auszubilden

Adrien Kuenzy & Teresa Vena
03. November 2023

Der französische Regisseur Yann Gonzalez leitete 2023 an der ECAL einen Workshop. © ECAL/Ecole cantonale d’art de Lausanne

Im Schweizer Film fehle es an Fachleuten. Welche Verantwortung kommt dabei den Filmhochschulen zu? Wie kommt man den Bedürfnissen der Branche entgegen? Gespräch mit Sabine Boss und Paolo Moretti, die jeweils die Fachrichtung Film an der ZHdK und ECAL verantworten. 

Der Filmmarkt macht entscheidende Veränderungen durch. Um ihnen zu begegnen, bedarf es auch an Anpassungen der bisherigen Strukturen. Zahlreiche Verbände der Branche beklagen einen Mangel an Fachkräften. Werden letztere erst gar nicht ausgebildet oder können sich die Absolventen und Absolventinnen unserer Hochschulen auf dem Markt nicht behaupten? Bisher lassen sich Thesen hierzu nur auf empirische Daten stützen. Echte Statistiken können weder die Lehrinstitutionen selbst liefern, noch werden sie von anderer Stelle erhoben. 

Alain Weiss, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesamts für Statistik (BFS), erklärt, es sei aufgrund der geringen Anzahl Absolventen und Absolventinnen im Bereich Film im Vergleich zur Gesamtzahl der Schweizer Hochschulabgänger und -abgängerinnen schwierig, im Rahmen der Studien des BFS stichhaltige Ergebnisse zu erhalten. Eine kurze Umfrage von Cinébulletin unter ehemaligen Studierenden der ZHdK zeigte, dass diese der Ansicht sind, es brauche mehr praxisorientierte Ausbildungen, die sich an der Realität der Branche orientieren. Die geringe Anzahl der Antworten lässt jedoch auch hier keine endgültigen Schlüsse zu. Gemäss Rachel Schmid, Direktorin von FOCAL, ging aus einer Umfrage unter ehemaligen Stagiaires des FOCAL Stage Pool (2016-2019) hervor, dass 90 Prozent von ihnen nach wie vor in der audiovisuellen Branche arbeiten und über 50 Prozent ihren Lebensunterhalt ausschliesslich in dieser Branche bestreiten. Eine neue Umfrage für die Jahre 2018-2022 ist in Vorbereitung und soll neu den gesamten Bildungsweg der Stagiaires berücksichtigen.

Die Diskussionen sind in diesem Bereich erstaunlich emotional. Kürzlich fragte die NZZ am Sonntag «Bildet die Schweiz zu viele Kulturschaffende aus?» und meinte damit Personen, deren Qualifikationen den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entgegenlaufen. Doch welche Aufgaben kommen den Filmhochschulen in der Schweiz wirklich zu?  

 

Die Branche beklagt einen zunehmenden Mangel an Fachkräften. Welche Rolle spielen Ihre Schulen in diesem Bereich?

Paolo Moretti: Ich denke, dass alle eine Rolle übernehmen müssen. Als Schule beteiligen wir uns aktiv an dieser Diskussion. Es ist jedoch zu bedenken, dass wir im Bachelor-Studiengang nur rund zehn Studierende pro Jahr haben. Der Fachkräftemangel in der Filmbranche ist also ein komplexes Problem, das nicht von den Filmhochschulen allein gelöst werden kann. Die Produktion eines Films, einer Serie oder anderer audiovisueller Inhalte umfasst diverse Aspekte. Unser Ziel ist, den Studierenden alle Facetten des Berufs aufzuzeigen, doch das bedeutet nicht, dass unsere Hauptaufgabe darin besteht, Techniker und Technikerinnen auszubilden, die sofort einsatzbereit sind. Ich denke, es gibt andere Institutionen, die diese Rolle besser übernehmen können. An der ECAL konzentrieren wir uns auf den künstlerischen Ausdruck und unterstützen unsere Studierenden dabei, ihre persönliche Vision zu entwickeln. Um wirkungsvolle Lösungen gegen den Fachkräftemangel zu finden, bräuchte es einen breiteren Ansatz und eine genaue Bedarfsanalyse.

Sabine Boss: Die ZHdK ist bekannt dafür, dass die technische Ausstattung auf einem hohen Niveau ist. Deshalb vermitteln wir auf Bachelorebene technisches Assistenzwissen. Der Bachelor Film ist ein sogenanntes Grundlagenstudium, auf dem die Studierenden aufbauen. Dabei haben sie Unterricht in allen wichtigen filmischen Gestaltungsbereichen: Ton, Schnitt, Kamera, Drehbuch, Dramaturgie, Drehorganisation und Kommunikation haben eine hohe Bedeutung. Daneben bieten wir im Bachelor seit fünf Jahren ein «Production Design»-Studium an, das an vielen Punkten mit dem Bachelor Film verknüpft ist. Eine Ausbildung mit hoher Erfolgsquote. Im Master Film spezialisieren sich die Studierenden dann in den Bereichen Regie Spielfilm, Realisation Dokumentarfilm, Drehbuch, Kamera, Montage und «Creative Producing». Die Master-Abgänger und -Abgängerinnen fassen einfach Fuss in der Branche, insbesondere wenn sie aus den Bereichen Drehbuch, Schnitt oder «Creative Producing» kommen. Regie-Personen brauchen natürlich länger, um sich nach ihrem Abschluss zu positionieren. Wir versuchen als Kunsthochschule, Fachkräfte auszubilden und für die Branche mitverantwortlich zu denken. Der grosse Fachkräftemangel betrifft im Film andere Bereiche, nämlich die der komplexen Organisationsstruktur, wie Aufnahmeleitung, Regieassistenz, Drehorganisation und Produktionsleitungen. Ich glaube, um einen solchen Beruf auszuüben, muss man nicht unbedingt an eine Kunsthochschule gehen.

 

Wie schätzen Sie die Erfolgsbilanz Ihrer Absolventen und Absolventinnen ein, die in den Arbeitsmarkt eintreten?

Sabine Boss: Es braucht einen starken persönlichen Willen und viel Arbeit, um sich zu etablieren. Die Garantie, dass direkt nach dem Masterstudium wirklich der erste Film gemacht werden kann, ist überhaupt nicht gegeben. Innerhalb von rund vier bis fünf Jahren schaffen es etwa Dreiviertel der Master-Abgänger und -Abgängerinnen, sich in einer Leitungsposition im Markt zu etablieren.  Ungefähr ein Viertel unserer Abgänger und Abgängerinnen wechselt in ein verwandtes Berufsfeld (IT-Design, visuelle Kommunikation, Werbung, Game Design, Bildende Kunst, Bildjournalismus), erwirbt sich über zusätzliche Studien weitere Qualifikationen («Art Education») oder wechselt ganz das Berufsfeld (wie Architektur, Journalismus, Kuration, Literatur). In der Etablierungsphase gibt es selbstverständlich Phasen der Unterbeschäftigung, die mit Weiterbildung,  Projektentwicklungen, aber auch Nebenjobs genutzt werden.

Paolo Moretti: Ich habe erst letztes Jahr angefangen und kann deshalb keine detaillierten Angaben machen, und wir führen auch keine Statistiken. Ich habe jedoch festgestellt, dass die Absolventen und Absolventinnen der vergangenen Jahre in verschiedenen Positionen Arbeit gefunden haben. Unsere Studierenden verfügen über eine Ausbildung, die über einfache Regie-Kenntnisse hinausgeht, und sammeln Erfahrungen in allen Herstellungsphasen eines Films (Drehbuch, Produktion, Realisation, Kamera, Schnitt, Ton usw.). Dies vereinfacht ihren Einstieg ins Berufsleben. Zudem ist es auch eine Frage der Zeit. So dauerte zum Beispiel die Entwicklung des Spielfilms «Foudre» unserer Absolventin Carmen Jaquier, der die Schweiz an den Oscars vertritt, nahezu zehn Jahre. Statistiken können interessant sein, doch sie widerspiegeln nicht immer die Realität der Kunsthochschulen, wo künstlerische Projekte lange Zeit brauchen können, um zur Reife zu gelangen.

 

Fehlen Ihrer Meinung nach zuverlässige Daten, die dazu beitragen könnten, die Ausbildung an die Bedürfnisse der Studierenden und des Marktes anzupassen?

Paolo Moretti: Ganz klar, das ist einer der Mängel, der  mir bei meinem Stellenantritt aufgefallen ist  Um eine aussagekräftige Basis zu haben, muss jedoch eine Studie mit einem durchdachten und präzisen statistischen Ansatz durchgeführt werden. Wir organisieren derzeit eine solche in Zusammenarbeit mit der HEAD und hoffen auf erste Ergebnisse im Jahr 2024.

Sabine Boss: Wir führen jährlich Evaluationen mit unseren Abgängern und Abgängerinnen durch, um die Bedürfnisse und Erfahrungen der Studierenden in das Curriculum einfliessen zu lassen. Neu planen wir eine Untersuchung zu den Alumni der letzten zehn bis fünfzehn Jahre. Das Thema ist uns wichtig.

 

Welche Möglichkeiten bieten Sie Ihren Studierenden, um sich mit der Schweizer Filmbranche zu vernetzen?

Sabine Boss: Wir führen regelmässige «Master Talks» mit internationalen Entscheidungsträgern durch, holen externe Produzenten und Produzentinnen sowie Experten und Expertinnen, stellen die Abschlussprojekte der Studierenden vor. Wir vernetzen die Drehbuchleute mit verschiedenen Fernsehredaktionen aus dem deutschsprachigen und europäischen Raum. Wir simulieren «Writers‘ Rooms», zu denen auch Akteure wie Amazon oder Netflix eingeladen werden. Die Festivals kommen regelmässig vorbei. Wir haben ein Netz von Schnittassistenzen, die sich selbst organisieren und Aufträge weiterreichen. Das läuft recht gut. Es gibt eine rege genutzte Internetseite studentfilm.ch, die als Stellenbörse funktioniert. Erste Erfahrungen können bei laufenden Praxisprojekten gesammelt werden. Dafür eignet sich zum Beispiel das Herstellen von «Making-Ofs», für die Produktionsfirmen oft Studierende anfragen. Es gibt aber auch Studierende, die gar nicht darauf aus sind, grosse Filmprojekte, zu realisieren, sondern in kleinen Formaten arbeiten wollen. Es ist wichtig, dass sich die Studierenden im Rahmen des Studiums auch die Freiheit behalten, sich ausprobieren zu können.

Paolo Moretti: Viele unserer Dozenten und Dozentinnen, welche die Studierenden während ihrer Ausbildung an der ECAL begleiten, sind selbst aktiv in der Schweizer Filmbranche tätig, in den Bereichen Regie und Drehbuch, aber auch in Produktion, Kamera, Schnitt, Ton. Unsere Lehrkräfte, Dozenten und Dozentinnen sind oft der erste Kontakt der Studierenden mit der Filmbranche. Unsere Studierenden im dritten Jahr haben zudem jedes Jahr die Gelegenheit, ihr Diplomprojekt vor Fachleuten der Branche zu präsentieren. Dies ermöglicht den Austausch und ein erstes Kennenlernen der wichtigsten Persönlichkeiten der Schweizer Filmproduktion. Ausserdem bleiben wir mit unseren Absolventen und Absolventinnen in Kontakt, um sie weiterhin von unserem Netzwerk profitieren zu lassen, und laden ehemalige Studierende ein, damit sie ihre praktischen Erfahrungen teilen können. In der Schweiz gibt es zahlreiche, national und international anerkannte Produktionsfirmen mit ganz unterschiedlichen Ansätzen. Wir bieten unseren Studierenden die Möglichkeit, mit den wichtigsten Branchenleuten in Kontakt zu treten und so verschiedene Facetten der Filmindustrie zu entdecken.

 

Sind Ihre Studierenden auf die wirtschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten in der Branche vorbereitet?

Paolo Moretti: Natürlich, sie sind nicht naiv. Wir bereiten sie vor und bieten ihnen Produktionskurse sowie praktische Übungen an. Zu unseren Lehrkräften zählen Produzenten und Produzentinnen, die auf dem Markt sehr aktiv sind. Meine Vorgängerin Pauline Gygax, eine der prominentesten Produzentinnen der Schweizer Filmbranche, ist weiterhin als Dozentin bei uns tätig. Auch ihr Vorgänger, der Regisseur, Produzent und Vertreiber Lionel Baier, lehrt immer noch an der ECAL. Vor allem aber müssen die Studierenden ein tiefes Verständnis ihrer filmischen Identität entwickeln, die ihren Zielen entspricht. Möchten sie einen Spielfilm realisieren, einen Dokumentarfilm, eine Serie oder ein visuelles Experiment? Man darf nicht vergessen, dass unsere Studierenden normalerweise zwischen 19 und 23 Jahre alt sind, ein Alter, in dem die Entdeckungslust noch sehr gross ist. Sie haben noch keine gefestigten Vorstellungen, und das ist absolut normal! Deshalb bietet unser Lehrkonzept eine gewisse Flexibilität in der Gestaltung der Programme. Wir betrachten unsere Abteilung als eine offene Türe, die stets mit der Aussenwelt kommuniziert und uns so erlaubt, aktuelle – und hoffentlich auch künftige – Bedürfnisse besser zu erfüllen. 

Sabine Boss: Als Universität können wir keine Garantie auf eine spätere Stelle geben. Im Bachelor haben wir auf freiwilliger Basis eine Vertiefungspraxis und Angebote im Bereich Produktion. Neu wird der Besuch des Programms Pflicht werden, im Master erst recht. Auch dafür sind Externe eingeladen, die über Themen wie Urheberrechte sprechen oder es geht konkret darum, ein Finanzierungsdossier zu erstellen. Das sehen wir als unsere Pflicht. Die Studierenden selbst organisieren sich mit der Sammlung von praktischen Handlungsanweisungen, um sich auf die Zeit nach dem Abschluss vorzubereiten. Natürlich sind sie mit der Angst konfrontiert, wie es danach weitergeht. Dieses Gefühl hatte ich zu meinen Anfängen als Regisseurin auch. Bei Selbständigkeit in einem dynamischen Berufsfeld gehört eine gewisse planerische Unsicherheit dazu.

 

Die Branche ist im Wandel. Welche pädagogischen Anpassungen planen Sie?

Sabine Boss: Wir erweitern unser Angebot vom klassischen Spiel- und Dokumentarfilm, hin zu anderen Erzählformen mit offeneren Dramaturgien. Besonderes Augenmerk legen wir auf den Ausbau von «Virtual Production». Im Rahmen der Einführung von «Major-Minor» an der ZHdK bieten wir «Minors» wie «Virtual Production» oder «Cinematic narration in virtual spaces» an, in denen wir eng mit dem «Departement Design» zusammenarbeiten. Befähigung für den Umgang mit Technologien der Zukunft sehe ich als Kernaufgabe an der ZHdK an. 

Paolo Moretti: Die aktuellen Gespräche mit der HEAD betreffen insbesondere den Übergang zu einem spezifischen Abschluss in Filmwissenschaften. Zurzeit erlangen unsere Studierenden einen Abschluss in visueller Kommunikation mit Fachrichtung Film, oder in bildender Kunst im Falle der HEAD. Wir möchten den Bereich Film als eigenständigen Studiengang etablieren. Dazu müssen wir uns Gedanken machen über unsere beiden Schulen, deren Traditionen und Ansätze sich über die Jahre unterschiedlich entwickelt haben. Wir möchten in Zukunft mehr und mehr in der Lage sein, Lehrgänge anzubieten, die sich an den stetigen Wandel der Bedingungen und Methoden zur Filmproduktion in der heutigen Gesellschaft anpassen.

 

Wie gestaltet sich der Austausch mit anderen Institutionen, und welche Themen stehen derzeit im Vordergrund?

Paolo Moretti: Wir bieten einen gemeinsamen Masterstudiengang mit der HEAD an. Diese einzigartige Initiative, mit der wir sehr zufrieden sind, ist ein fester Bestandteil unserer gemeinsamen Entwicklung. Zudem unterhalten wir ausgezeichnete Beziehungen zu den anderen Schulen und inspirieren uns gegenseitig. Jede Institution führt ihre eigenen Überlegungen durch, unter Berücksichtigung ihrer Geschichte, ihrer Ziele sowie ihrer durch äussere Umstände bedingten Einschränkungen und Möglichkeiten. Diese Vielfalt ist interessant, da daraus innovative und bereichernde Ideen entstehen können.

Sabine Boss: Unter den Schweizer Filmhochschulen haben wir einen guten Kontakt. Alle Studiengangleitungen besprechen bei regelmässigen Treffen gemeinsame Themen. Dazu gehört aktuell die Wiedereinführung der Möglichkeit von Sur-Dossier-Aufnahmen auf Masterebene oder der Austausch im Bereich der virtuellen Formate. Auch auf internationaler Ebene sind wir über CILECT (Internationaler Verband der Filmhochschulen) vernetzt und arbeiten an gemeinsamen Programmen (wie dem von der ZHdK entwickelte Unterrichts-«Pre-visualization tool» Cinedesk). 

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