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«Ich gebe dem Film Struktur, schaffe eine Erzählung»

Pascaline Sordet
28. März 2022

️ Karine Sudan © zvg

«Das Rohmaterial von Dokumentarfilmen ist sehr wertvoll; es sind Lebensgeschichten», so Karine Sudan, die bedeutende Cutterin des Westschweizer Dokumentarfilms. Die langjährige Mitarbeiterin von Nicolas Wadimoff, Stéphane Goël, Fernand Melgar und Jean-Stéphane Bron ist im nationalen Wettbewerb von Visions du Réel mit Céline Pernets Film «Garçonnières» vertreten.  

Sie haben an der ECAL studiert, um Regisseurin zu werden, haben sich aber schon bald der Montage zugewandt. Reizte Sie dieser Beruf?

Cutterin zu werden war keine bewusste Entscheidung. Als Studentin lässt man sich von anderen lenken. Ich lebte damals in einer WG mit Matthias Bürcher, der einen AVID-Schnittplatz gekauft hatte. So begann ich, Kurzfilme zu schneiden – schlecht bezahlte Projekte mit kleinem Publikum. Ich habe auch als Script Supervisor gearbeitet –  ein interessanter Beruf, der dem Drehbuch nahesteht – doch die Montage passt besser zu meiner Persönlichkeit. Man arbeitet alleine, ohne den Stress am Set, und steht doch im Zentrum des kreativen Schaffens. Als Cutterin setze ich den Film wie ein grosses Puzzle zusammen, gebe ihm Struktur und schaffe eine Erzählung.

 

Was war das erste Schlüsselereignis Ihrer Karriere? 

Der erste Film, der mich geprägt hat, war «La bonne conduite» von Jean-Stéphane Bron. Ich sollte eigentlich die Montage für einen anderen Cutter vorbereiten, doch wir verstanden uns so gut, dass ich den Film schliesslich fertigstellte.

 

War dieses Projekt ausschlaggebend für Ihre Hinwendung zum Dokumentarfilm?

Das war keine bewusste Entscheidung, ich mag auch Fiktion, aber es gibt einfach mehr Dokumentarfilme. Was mir am Dokumentarfilm gefällt, ist dass die Filmemacher:innen mit dem Rohmaterial kommen und wir gemeinsam auswählen. Das Rohmaterial ist sehr wertvoll: Es ist das Leben einer Person, die respektiert werden muss – das ist eine grosse Verantwortung.

 

Ihre ersten Langfilme sind über 20 Jahre alt. Was hat sich in Ihrem Beruf seither verändert? 

Die Technik hat sich weiterentwickelt, es gibt immer mehr Software, die man regelmässig erneuern muss, das ist eine Herausforderung. Vielleicht sind die jungen Cutter:innen diesbezüglich versierter, doch Montage bleibt Montage. Ich verspüre hingegen einen gewissen Druck, dem Stil der «Netflix-Docs» zu folgen. Sie haben riesige Budgets, eine sehr dominante Narration und fast unerschöpfliche Archive. Man könnte meinen, ein Team von acht Cutter:innen sei gemeinsam am Werk. Ich habe mich damit noch nicht im Detail befasst, doch das Thema kommt in Gesprächen vermehrt auf. Andererseits mache ich Dokumentarfilme fürs Kino, die man sich ansieht, um berührt zu werden, und nicht wegen der Nachinszenierung oder der Stars. 

 

In der Serie «Histoire (résolument) subjective du cinéma et de la télévision suisse romande» wählte Jean-François Amiguet sechs Dokumentarfilme aus, um den Erfolg des Genres bei Kritik und Publikum in der Westschweiz seit Beginn der 2000er-Jahre zu veranschaulichen. Stéphane Goël wies auf Facebook darauf hin, dass fünf dieser Filme von Ihnen geschnitten wurden und bedauerte, dass dies in der Serie nicht erwähnt wird. Wie stehen Sie dazu?

Ich fühlte mich durch diesen Post geschmeichelt, doch vor allem bin ich stolz darauf, all diese Filme geschnitten zu haben. Das gibt mir das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Ich suche keine Anerkennung, mein eigener Stolz ist mir wichtiger.

 

Aus der Liste geht auch hervor, dass Sie den Regisseuren, mit denen Sie arbeiten, sehr treu sind: Jean-Stéphane Bron, Nicolas Wadimoff, Fernand Melgar, Stéphane Goël…

Diese Treue ist sehr angenehm, denn durch sie entsteht von Film zu Film ein Band. Ich habe hauptsächlich mit Regisseur:innen aus meiner Generation gearbeitet, jedoch an sehr unterschiedlichen Filmen und mit sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen: Manche besuchen den Schneideraum regelmässig, andere praktisch nie. Ich habe viel von ihnen gelernt, denn wir haben unterschiedliche Sichtweisen. Man muss sich auf die Auseinandersetzung einlassen und sich anstrengen, um einander zu verstehen.

 

Im letzten Fokus von Cinébulletin ging es um das Publikum. Denken Sie beim Schneiden auch an das Publikum?

Ich denke immer ans Publikum, obwohl die Besucherzahlen in den Kinos stetig sinken, vor allem bei Dokumentarfilmen. Die erfolgreichsten Filme, die ich geschnitten habe, sind «Mais im Bundeshuus» mit 105’000 Eintritten und «Hiver Nomade» mit fast 70’000. Heute sind wir schon zufrieden, wenn wir 15’000 Tickets verkaufen. Trotzdem versuche ich stets, Filme für ein grösstmögliches Publikum zu machen, denn ich möchte nicht für eine Elite arbeiten. Bei Serien ist das anders, sie sprechen ein breiteres und jüngeres Publikum an.

 

Sie haben mehrere Serien geschnitten, oft in Zusammenarbeit mit anderen Cutter:innen. Was bringt Ihnen diese Arbeitsweise?

Ich arbeite gerne mit anderen Cutter:innen wie Orsola Valenti oder Nicolas Hislaire. Es ist bereichernd, Details, Techniken und die eigenen Zweifel mit jemandem zu besprechen, der die Dinge aus Sicht der Montage betrachtet. Zudem sind an Serien Assistent:innen, Produktion, Vertrieb und TV-Sender beteiligt. Die Anforderungen sind anders, vor allem in Bezug auf Rhythmus und Verständnis. Ich habe dabei vieles gelernt, zum Beispiel über den Aufbau von Spannung – was man im Dokumentarfilm nie macht.

 

In der Montage sind Frauen stärker vertreten als im Ton oder in der Kameraführung. Wie erklären Sie sich das?

Als Cutter:in hat man regelmässige Arbeitszeiten, die sich mit dem Familienleben vereinbaren lassen. Als meine Kinder klein waren, wohnten wir hier im Haus (sie zeigt zur Decke ihres Büros im Erdgeschoss), und da kein enormer Zeitdruck bestand, konnte ich sie mit in den Schneideraum nehmen, wenn sie krank waren. Seit dem Aufkommen digitaler Schnittplätze interessieren sich mehr Männer für die Montage, doch zu Zeiten der Filmrollen sahen die Schnittplätze aus wie grosse Nähmaschinen!

 

Können Sie uns etwas über Ihre Arbeitsweise verraten?

Ich arbeite viel mit Post-its, das hilft mir, den Überblick zu behalten. Bei «Garçonnières», für den Céline Pernet Dutzende von Interviews geführt hatte, waren alle vier Wände mit Zetteln vollgeklebt. Das gibt mir Orientierung und Struktur. Zudem fülle ich bei jedem Film während der Sichtung des Rohmaterials ein oder zwei Hefte mit Notizen zu jeder Sequenz. Fünf Jahre später verstehe ich zwar meine eigenen Notizen nicht mehr, doch während der Arbeit weiss ich genau, wo ich welche Information finde.

 

Schauen Sie sich Filme, die Sie geschnitten haben, später wieder an?

Zuweilen ja, auch wenn ich immer Details finde, die ich korrigieren möchte, und da habe Lust, meine Notizen herauszusuchen! Zugleich ist es faszinierend zu sehen, wie von der Grobarbeit bis zum letzten Skalpellschnitt ein fertiges Werk entstanden ist, wo alles seinen Platz hat. 

 

Originaltext Französisch

 

Biographie

Karine Sudan wurde 1969 in Lausanne geboren, wuchs in Gruyères auf und studierte von 1989 bis 1994 an der ECAL. Seither ist sie vorwiegend als Cutterin tätig und erhielt 2013 den Spezialpreis der Schweizer Filmakademie für «Hiver nomade» von Manuel von Stürler. Sie hat «Les dames» (2018) von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond montiert und «Fragments du paradis» (2015) von Stéphane Goël; für Jean-Stéphane Bron entstand neben «La bonne conduite» (1999) «L'expérience Blocher» (2013), «Mais im Bundeshuus» (2003) und «Mon frère se marie» (2006), dessen Drehbuch sie mitverfasst hat. Auch mit Fernand Melgar und Nicolas Wadimoff hat Karine Sudan regelmässig gearbeitet.

 

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