MENU Schliessen

Die Realität steht selten im Rampenlicht

Adrien Kuenzy
28. März 2022

«Fuocoammare» von Gianfranco Rosi hat den goldenen Bär an der Berlinale 2016 erhalten.

Der Dokumentarfilm hat seit einigen Jahren seinen festen Platz an den A-Festivals, doch in den internationalen Wettbewerben ist er nach wie vor selten vertreten.

Auf Streaming-Plattformen wie dem Marktführer Netflix sind Dokumentarfilme seit einigen Jahren äusserst erfolgreich und ziehen ein Millionenpublikum an. «The Tinder Swindler» von Felicity Morris hielt sich im Februar 2022 mit insgesamt rund 163 Millionen gestreamten Stunden fast einen Monat lang in den weltweiten Top 3. Der Film erzählt anhand von Interviews und nachgestellten Szenen die Geschichte eines Hochstaplers, der mehrere Frauen verführt und um ihr Geld bringt. Viele weitere Titel dieser Art von ähnlich geringem ästhetischem Interesse feiern im Netz grosse Erfolge, wie «Making a Murderer» oder «Tiger King», in dem es um amerikanische Tierparks geht.

 

An Attraktivität gewonnen

Diese Dokumentarfilme, die mit starken, aber kurzlebigen Emotionen Aufmerksamkeit erregen, haben online, abseits der Festivals, ein grosses Publikum erobert. «Solche Formate sind auf den Plattformen sehr präsent», so Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter der Berlinale und Mitglied der Industry-Jury von Visions du Réel. «Heutzutage ist das für sie wohl die beste Möglichkeit, das Publikum zu erreichen, so wie früher das Fernsehen, das auch immer das Bedürfnis hatte, die Realität in Form von Reportagen oder anderen Formaten darzustellen.» Gemäss Cristina Nord, Leiterin des Forums der Berlinale, «ist der Erfolg dieser Formate meist rein informativer Art, mit Interviews und Erzählstrategien, die darauf abzielen, das Publikum schnell zu fesseln. Auf ästhetischer Ebene haben sie nicht viel zu bieten, und sie lassen kaum Freiraum zum Nachdenken oder Träumen.»

Die von der FIAPF anerkannten A-­Festivals – ohne Spezialisierung und mit internationalem Wettbewerb – widerspiegeln die Situation auf dem Filmmarkt. «Fiktion steht klar im Zentrum des Interesses», so Carlo Chatrian. «Sobald ein Spielfilm mehr Unterstützung und mehr Ressourcen hat, wird ihm automatisch mehr Platz eingeräumt.» So war an der diesjährigen Berlinale unter den 18 Wettbewerbsfilmen nur ein einziger Dokumentarfilm: «Every­thing Will Be Ok» des Kambodschaners Rithy Panh. 

Wie auf den Plattformen gewann der Dokumentarfilm jedoch auch für die A-Festivals an Attraktivität, dank einiger Werke, die das Interesse dafür weckten. «Anfang der 2000er-Jahre feierten Filme wie «Bowling for Columbine» des Amerikaners Michael Moore oder «Buena Vista Social Club» des Deutschen Wim Wenders Erfolge an diesen Festivals und eroberten anschliessend ein breites Publikum», so Cristina Nord. «Da erkannte die Branche, dass man in einem gewissen Ausmass auch mit Dokumentarfilmen Geld verdienen kann.» Carlo Chatrian ergänzt: «Der Aufschwung des Dokumentarfilms in den letzten fünfzehn Jahren führte jedoch zu keinen bemerkenswerten Ergebnissen. Einige Dokumentarfilmer haben beträchtliche Erfolge erzielt und das Interesse der grossen Festivals geweckt, insbesondere Gianfranco Rosi oder Rithy Panh, doch sie stellen eher eine Ausnahme dar.»

 

Viele Perlen

In den Parallelsektionen kann man auch heute noch viele Perlen entdecken, zum Beispiel am Festival von Cannes und an der Mostra von Venedig. Das Forum der Berlinale, das im Jahr 1971, zwanzig Jahre nach der ersten Ausgabe des Festivals, gegründet wurde, zeigt zahlreiche Dokumentarfilme. Cristina Nord, die das Forum seit 2019 leitet, versucht heute, die hybride und essayistische Tendenz der Sektion noch zu verstärken. «Neue Per­spektiven und ästhetischen Strategien, die zum Nachdenken über die Welt anregen, stossen zunehmend auf Interesse», erklärt sie. «Eine Welt, die einerseits immer grösser wird, da wir immer mehr Informationen erhalten, und andererseits immer kleiner, da die Globalisierung unsere Sicht auf die Ereignisse verändert hat.» Auf jeden Fall besteht ein Bedürfnis nach Filmen, die neue Blickwinkel eröffnen, unseren Horizont erweitern und zur konstanten Informationsflut Distanz schaffen.

 

Originaltext Französisch

 

 

Visions du Réel

Panel über die Präsenz des Dokumentarfilms an den A-Festivals. 

Mehr Informationen auf visionsdureel.ch

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife