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Sollen Protagonisten im Dokumentarfilm bezahlt werden?


31. März 2017

Es  sind oft Protagonisten, die im Mittelpunkt von Dokumentarfilmen stehen. Obwohl sie sie keine schauspielerischen Leistungen erbringen, nehmen sie durch persönlichen Einsatz am kreativen Prozess teil, manchmal während jahrelanger Dreharbeiten. Sollen Protagonisten für ihre Teilnahme am Film bezahlt werden? Filmschaffende und Experten diskutieren bei Visions du Réel die ethischen, praktischen und juristischen Aspekte dieser Frage (siehe Box). Wir haben schon einmal mit Thomas Geiser, Professor für Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen und Filmkenner, über das Thema gesprochen sowie Statements von vier Filmschaffenden zu ihrer diesbezüglichen Praxis eingeholt. Während Christian Frei grundsätzlich keinen Lohn, sondern nur Unkostenbeiträge bezahlt und Irène Loebell wie Kaveh Bakhtiari eine Bezahlung eher für problematisch halten, vertritt Fernand Melgar in dieser laut ihm «tabuisierten Frage» eine etwas andere Position. Entschädigungen an seine Mitwirkenden will er zwar ebenfalls nicht als Lohn verstanden haben. Aber er bezahlt dennoch oft mehr als reine Unkostenbeiträge.
Laut Laurent Steiert vom Bundesamt für Kultur sind Entschädigungen von Protagonisten übrigens sehr selten und eher tief, nämlich geschätzte 500 bis max. 3'000 Franken. Es gebe jedoch keine Erhebungen dazu. Gemäss Matthias Bürcher, verantwortlich für die Standortförderung beim BAK, liegt der Anteil solcher Entschädigungen bei durchschnittlich 0.7% des Gesamtbudgets der mit FiSS geförderten Dokumentarfilme. Zum Thema des Podiums inspiriert hat nicht zuletzt Lech Kowalski, US-Regisseur und Gesprächsteilnehmer in Nyon. In seinem neuen Film «I Pay for Your Story» erzählen Obdachlose und verarmte Menschen aus seiner Heimatstadt Utica im Staat New York aus ihrem Leben. Kowalski hat dafür bezahlt – 15 Dollar pro Geschichte, erzählt in max. 15 Minuten. Laut dem Regisseur entspricht das dem Doppelten vom amerikanischen Mindestlohn. 
Kathrin Halter

Bild: «L'escale» von Kaveh Bakhtiari
 

Die Statements der Filmschaffenden

Christian Frei:
«Ich habe bei ‹War Photographer› den Kriegsfotografen James Nachtwey mit 50% der US-Einnahmen beteiligt. Das war aber kein Lohn für ihn als Protagonisten, sondern für die Nutzung seiner Fotografien im Film. Ich bezahle grundsätzlich nie eine Abgeltung, nur Unkostenbeiträge. Protagonisten in einem Dokumentarfilm sollen ja auch nicht argumentieren können, dass der eventuelle kommerzielle Erfolg eines dokumentarischen Werks auf ihrer Leistung, ihrer Performance, beruht. Dann wären wir in Teufels Küche! Ein anderes Beispiel ist Raving Iran von Susanne Regina Meures. Der Erfolg dieses Films beruht nicht auf der künstlerischen Leistung der beiden DJs. Es ist ihre Geschichte und ihre verzweifelte Situation, die berührt.» 

 

Irène Loebell: 
«Protagonisten dafür zu bezahlen, dass sie bei einem Dokumentarfilm mitmachen, finde ich problematisch und habe das – mit einer einzigen Ausnahme – auch noch nie getan. Die Frage ‹Bezahlen oder nicht› stelle ich mir aber bei jedem Filmprojekt neu und immer mit Blick auf die konkreten Protagonisten, um die es geht, und auf den Film, den ich machen möchte.

In dem einen Fall, wo ich ein Honorar bezahlt habe, wäre der Film anders nicht zustande gekommen. Nach einigem Abwägen kam ich zur Einschätzung, dass das Verhältnis zwischen der Protagonistin und mir durch diese ‹Kommerzialisierung› nicht auf eine Weise beeinflusst würde, die dem Film Schaden zufügen würde.

Weshalb willigt jemand ein, bei einem Film mitzumachen? Diese Motivation ist bei Dokumentarfilmen oft ein treibendes Element der Geschichte und es kann zu einem Problem für den Film werden, wenn der Umstand, damit Geld zu verdienen, ein wichtiger Teil dieser Motivation wird.

Wenn Protagonisten durch die Dreharbeiten jedoch Verdienstmöglichkeiten entgehen, dann sollten diese kompensiert werden, und dies erst recht, je grösser das ökonomische Gefälle zwischen den Filmschaffenden und ihren Protagonisten ist. Es ist nichts als fair, wenn zB. der Kollege, der im Kongo einen Film mit Strassenkindern dreht, diesen für ihre Teilnahme ungefähr den Betrag bezahlt, den sie während der Drehzeit mutmasslich mit Betteln verdient hätten.»
 

Fernand Melgar:
«Ich weiss, dass es sich hier um eine sehr heikle Frage zum Dokumentarfilm handelt, ich habe auch schon mit meinen Kollegen und den Finanzierungsgremien darüber gesprochen, insbesondere auch über mögliche Entschädigungen.

In meiner Arbeit habe ich oft mit Menschen in prekären Situationen zu tun. Für mich ist es daher wichtig, über meine eigene Nase hinauszuschauen. Man wird bekanntlich nicht reich, wenn man in der Schweiz Dokumentarfilme macht, doch man kann damit seinen Lebensunterhalt verdienen. Erhält man genügend Geld von der öffentlichen Hand oder den Filmförderungsstellen, kann man die technische Crew nach dem gewerkschaftlich vereinbarten Tarif bezahlen, und auch die Gefilmten verdienen eine grosszügige Entschädigung. Ein Protagonist schenkt mir viel Zeit während eines ganzen Drehjahres – unbezahlte Zeit. Wenn der Film Einnahmen generiert, ist es ganz normal, diese zu teilen und die Protagonisten zu Partnern zu machen.

Bei Vol Spécial, der mehrere gut dotierte Preise gewonnen hat, teilte ich die Einnahmen unter den 25 in Frambois Inhaftierten auf, die somit einen prozentualen Anteil dieser Preise, rund 3’000 Franken pro Person, erhielten. Ich überwies ihnen dieses Geld mit der Bemerkung, dass wir einen Preis gewonnen haben und sie Partner dieses Erfolgs sind.

Die Budgets sehen einen bestimmten Prozentsatz, zwischen 5 und 7 % des Gesamtbudgets, für Unvorhergesehenes vor. Somit hat man einen gewissen finanziellen Spielraum. Mit Hilfe dieser Beträge, die bis zu 25ʼ000 Franken betragen können, versuche ich, die Menschen in einer prekären Lage während der Dreharbeiten zu entlasten.

In L’Abri arbeitete ich mit der Gemeinschaft der Roma. Während der einjährigen Dreharbeiten entschädigte ich Mitwirkende, bezahlte das Essen oder die Gebühren für die Notunterkünfte, wobei ich stets ein Gleichgewicht zu wahren suchte. Man kann nicht einfach mit seiner Kamera dastehen und nichts tun. Ich habe auch Familien geholfen, nach Rumänien zurückzukehren, als ihre Lage in der Schweiz zu schwierig wurde. Dabei habe ich gemerkt, dass Geldspenden ein Ungleichgewicht bewirken, weil die Betroffenen prahlen und bei der Höhe der Beträge übertreiben. In der Folge überwies ich das Geld an Wohltätigkeitsorganisationen, die sich selber um die Verteilung kümmerten.

Schon bei der ersten Kontaktaufnahme mit Protagonisten bin ich um Transparenz bemüht: Der Film wird sie nicht reich machen. Ich weise sie auch auf die Problematik der Bildrechte hin, die man im Zeitalter des Internets nicht mehr kontrollieren kann. Ab und zu unterzeichne ich eine Vereinbarung, die ihnen bis zum Ende der Dreharbeiten die Kontrolle über ihr Bild gewährt, damit sie sich nicht als Labormäuse vorkommen. Was das Geld betrifft, so sage ich ihnen ganz klar: Ich bezahle keinen Lohn. Sie machen mit, falls Sie Lust dazu haben und Ihre Geschichte erzählen möchten.» (pso)
 

Kaveh Bakhtiari: 
«Ich glaube, die Begriffe Austausch, Engagement und Authentizität sind ein guter Barometer. Die Zeit, die ich mit diesen Menschen verbrachte, und der ganze Einsatz beim Entstehen von L'Escale, sind nicht wirklich bezifferbar. Geld erhält hier eine andere Bedeutung. Der Film hat einigen von ihnen erlaubt, ihr Leben dauerhaft zu verändern.

Es ist schwer zu sagen, in welchen Situatio­nen Beiträge angebracht sein können, alles hängt vom ersten Kontakt ab, der zwischen dem Regisseur und dem Protagonisten entsteht.

Ich glaube, eine Vergütung lässt die Gefahr aufkommen, dass die Leute uns das erzählen, was wir hören wollen, und sie das tun, was wir von ihnen erwarten. Es stellt sich das Problem der verlorenen Authentizität. Sehr wichtig ist: eine finanzielle Entschädigung darf niemals der Anreiz fürs Mitwirken sein, sie sollte erst später zur Sprache kommen (wenn überhaupt, und nur in wirklich gerechtfertigten Fällen). Eine Person muss in erster Linie ein eigenes Interesse haben, im Film mitzumachen. Es liegt am Regisseur, dieses Interesse nötigenfalls zu wecken, aber nicht mit Geld. Denn dann wird es auf allen Ebenen schwierig – auch in Bezug auf das Verhältnis der Filmemacher zu den Protagonisten. Stellen Sie sich vor, ein Regisseur würde sagen: Für wie viel Geld würdest du das vor der Kamera sagen, was du anfänglich nicht sagen wolltest?  Authentizität ist nicht verhandelbar.» (pso)
 

▶  Originaltexte Deutsch: I. Loebell, Ch. Frei

▶ Originaltexte Französisch: K. Bakhtiari,
F. Melgar

 

Cinébulletin in Nyon – das Podium

«Should the Protagonists of creative documentaries be paid?» 
Partner: SSA /Suissimage
Mit Stéphane Breton, Regisseur; Lech Kowalski, Regisseur; Franziska Reck, Produzentin.
Moderation: Pascaline Sordet, Cinébulletin. Sprache: Englisch. Eintritt gratis.
Montag, 24. April, 14:00 - 15:30, 
Grande Salle de la Colombière, Nyon

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