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Artikel

«Die Frage ist, ob ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht»

Kathrin Halter
31. März 2017

Thomas Geiser, Rechtsprofessor und Filmkenner, über die Bezahlung von Protagonisten, weshalb der Persönlichkeitsschutz im Dokumentarfilm zum Problem werden kann und was man sonst noch beachten sollte.

Was halten Sie von einer Bezahlung vonProtagonisten im Dokumentarfilm? Diese tragen schliesslich Wesentliches bei.

Es gibt zwei Aspekte: Zum einen erbringen Protagonisten Leistungen, indem sie im Film auftreten, Zeit aufwenden, manchmal auch Material zusammentragen und so weiter. Da kann es sinnvoll sein, diese Leistungen zu entgelten. Der zweite Aspekt betrifft den eher seltenen Fall, dass ein Film zum grossen Erfolg wird. Da kann man sich fragen, ob der Protagonist nicht am Gewinn beteiligt werden müsste.

Das Schulbeispiel dazu ist «Être et avoir» (2002) von Nicolas Philibert über eine französische Dorfschule. Philibert wurde von seinem Protagonisten, dem Dorflehrer Georges Lopez, wegen «Diebstahl geistigen Eigentums» und «Verletzung des Rechts am eigenen Bild» auf über 300ʼ000 Euro Schadenersatz verklagt...
... und hat vor Gericht verloren. Sinnvollerweise regelt man allfällige Gewinnbeteiligungen im Voraus. Das würde ich empfehlen.

Was spricht gegen eine Bezahlung von Protagonisten?
Die Frage ist, ob genügend Distanz gewahrt wird oder ob ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht. Das hängt aber nicht unbedingt vom Geld ab! Ein Abhängigkeitsverhältnis kann auch dann entstehen, wenn Protagonisten aus irgendeinem Grund ein grosses Interesse daran haben, dass ein Film zustandekommt, weil ihnen dies unter Umständen nützt. Oder es besteht die Gefahr, dass sich Protagonisten vor der Kamera so verhalten, wie das scheinbar von ihnen erwartet wird. Das kann zu einer Verfälschung führen oder einer Scheinwirklichkeit.

Und wenn Protagonisten in einer Notsituation sind, gerade wenn in Ländern mit grosser Armut gedreht wird? Filmschaffende können da auch in Gewissenskonflikte gelangen.
Das kann ich bestens nachvollziehen. Natürlich könnte das ein Argument dafür sein, zu bezahlen, das kann ich mir ohne weiteres vorstellen.

Statt zu bezahlen kann man Protagonisten in Not auch anders unterstützen, durch Naturalien etwa oder juristische Beratung, wie das immer wieder vorkommt. Was halten Sie davon?
Genau, es muss ja nicht in Form von Geld geschehen. Auch Kost und Logis während der Teilnahme am Film, die Vermittlung von Rechtsbeistand oder einer medizinischen Hilfe kann hilfreich sein. Es gibt auch immer wieder Filme, die eine Veränderung beim Verhalten der Politik oder einer Behörde bewirken und damit eine sehr grosse Hilfe sein können.
Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Wenn die Teilnahme am Film Kosten im weitesten Sinne verursacht. Zum Beispiel durch die investierte Zeit, die für Erwerbsarbeit wegfällt. Da bestehen sehr gute Gründe für eine Bezahlung. Also so genannte Opportunitätskosten durch entgangenen Verdienst.

Im Film von Lech Kowalski, «I Pay for Your Story», bezahlt der Regisseur verarmten oder obdachlosen Menschen von Utica, einer niedergekommenen Stadt im Nord­osten der USA 15 Dollar, wenn Sie vor der Kamera ihre Geschichte erzählen. Was halten Sie davon?
Es ist wenigstens ehrlich; allerdings kenne ich den Film nicht. Ein Problem besteht hier vielmehr darin, dass Leute teils völlig hemmungslos sind beim Preisgeben intimster Dinge. Und das ist nicht eine Folge von Bezahlung. Es gibt Menschen, die so darauf erpicht sind, am Fernsehen gezeigt zu werden, dass sie sich kaum überlegen, was dies bedeuten kann. Eine Ausnutzung von Naivität ist leider häufig.

Ein anderer Fall sind Filmporträts bekannter Künstler oder öffentlicher Figuren. Da könnte es auch Forderungen geben – obwohl Filme oft auch Renommee bedeuten, ein Werk gar aufwerten können.
Ja, natürlich. Was die Abgeltung betrifft: das muss man im Voraus regeln. Im Nach­hinein kann man keine Forderungen stellen. In der Regel wird vermutlich nichts verlangt, es gibt aber gewiss solche Fälle. Wollte man einen Dokumentarfilm über Roger Federer machen, müsste man vermutlich bezahlen, weil er kaum ein Interesse an einem solchen Film haben dürfte.

Was müsste man bei einer Bezahlung noch beachten?
Die Form der Bezahlung, sobald es mehr ist als ein Unkostenbeitrag: Handelt es sich um ein sozialversicherungspflichtiges Salär mit AHV-Abgaben, Lohnausweis und so weiter? Dann die Frage, wie das Salär ausgestaltet ist, als Auftrag oder gar als Arbeitsvertrag. Und was geschähe dann im Krankheitsfall?

... oder wenn Protagonisten plötzlich die Lust verlieren, mitzumachen? Zieht ein Vertrag eine Verpflichtung mit sich?
Es kommt eben drauf an, was man vereinbart. Eine Verpflichtung, bis am Schluss dabeizubleiben, kann man nicht durch­setzen, weil das dem Persönlichkeitsaspekt widerspricht. Es muss die Möglichkeit geben, auszusteigen.

Gibt es auch im Film ein Recht am eigenen Bild?
Das gilt für Deutschland. In der Schweiz gibt es den Persönlichkeitsschutz, wie er im Zivilrecht festgelegt ist. Dieser ist an sich umfassend, er betrifft die Lebensgeschichte, das eigene Bild und die eigene Stimme. Dies kann zu einem grossen Problem werden für Dokumentarfilmer: Selbstverständlich ist ein Film nur mit Einwilligung möglich; nach herrschender Lehre, der ich auch angehöre, kann diese zudem jederzeit zurückgezogen werden.

Sollte man nicht einen Zeitpunkt festlegen, ab dem ein Rückzug nicht mehr möglich ist?
Es ist denkbar, dass ein Film mit Einverständnis fertiggestellt wird – und bei der öffentlichen Präsentation derartige Publikumsreaktionen hervorruft, dass das für den Betroffenen katastrophal wird. Da muss es die Möglichkeit geben, Stopp zu rufen. Aber das sind Extremfälle. Und man kann dem im Vorfeld entgegenwirken.

Was sollte man sonst noch bedenken?
Das Umfeld der Protagonisten. Äusserungen über die Familie können unter Umständen problematisch sein. Das Umfeld ist oft viel prozessfreudiger als die Protagonisten selber. Gewiss ist es sinnvoll, rechtzeitig auf die Leute zuzugehen. Das gilt im übrigen auch bei Spielfilmen über historische Begebenheiten oder Personen. So lassen sich Probleme oft im Voraus vermeiden. Wobei viele Filmschaffende ein Problem damit haben – das ist «mein Film», heisst es dann.

Und wenn Dargestellte psychisch labil sind?
Dann wird es ganz heikel. Da kommt die Frage auf, ob jemand, der psychisch labil ist, überhaupt die Einwilligung geben kann. Diese Frage stellte sich ja beim Dokumentarfilm «Meine Schwester Maria» von Maximilian Schell, da die Protagonistin, die Schauspielerin Maria Schell, gewissermassen weggetreten war und in einer Traumwelt lebte. Da hat der Bund aus Persönlichkeitsschutz-Gründen Fördermittel verweigert. Bekanntlich kam der Film dann trotzdem zustande.

Was wird bei Filmen rechtlich gesehen sonst noch tangiert ausser dem Persönlichkeitsschutz?
Das Urheberrecht natürlich von Musik, Kunst oder auch das Recht an Markenprodukten, wozu man die Rechte braucht. Aber alles ist eine Frage des Aushandelns. Anwaltliche Gutachten einzuziehen gehören für Produzenten zum Normalfall.

Kosten können auch zu einem Mittel werden, Aufnahmen zu blockieren. Was kann man dagegen tun?
Man kann unter Umständen öffentliches Interesse ins Spiel bringen. Eine andere Frage ist, wann Sie ohne Einwilligung filmen können, bei Demonstrationen mit Polizeieinsatz zum Beispiel. Da wird es allerdings heikel, weil Sie als einzigen Rechtfertigungsgrund das öffentliche Interesse vorweisen können. Auch ein Unfall kann von öffentlichem Interesse sein. Wobei man darüber streiten kann, worin dieses genau besteht.

Braucht es einen juristischen Leitfaden?
Das ist nicht möglich. Wer sollte denn einen solchen Leitfaden machen, und wie sollte er sich legitimieren? Es gibt eben keine einheitliche Praxis. Eine Auflistung der rechtlichen Fragen, auf die man schon im Voraus achten sollte, auch zur Frage der Bezahlung, fände ich hingegen sinnvoll.

▶ Originaltext: Deutsch

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