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Artikel

Das Strafgericht als Filmschule

Pascaline Sordet
31. März 2017

Un portrait de Yamina Zoutat, réalisatrice, à l'occasion de la sortie de son premier long-métrage, «Retour au Palais», en compétition internationale à Visions du Réel.

6999 Türen, 24 Kilometer Korridore, neun ineinander verschachtelte Gebäude und diverse Innenhöfe: Der Palais de Justice de Paris auf der Île de la Cité ist wahrhaft ein Labyrinth. Yamina Zoutat war als Gerichtsreporterin für den französischen Fernsehsender TF1 über zehn Jahre lang im Justizpalast unterwegs und konnte ihn dennoch nie ganz erkunden. «Ich mochte diesen Ort sehr, er hat eine enorme Anziehungskraft», erzählt die Journalistin, die zur Regisseurin geworden ist. «Ich war gezwungenermassen in den Gerichtssälen eingeschlossen, doch ich spürte, wie der Palast rund um mich herum lebt. Aus dieser Zeit ist mir die Neugier geblieben, diese Korridore zu durchstreifen.»

Die aus Yverdon-les-Bains stammende Tochter einer italienischen Mutter und eines algerischen Vaters fühlte sich stets von Monumenten mit Ausstrahlung angezogen, von der imposanten Tour TF1, Hauptsitz des gleichnamigen Fernsehsenders, über die Université de la Sorbonne, wo sie Journalismus studierte, bis hin zum Palais de Justice. Dieser Mikrokosmos wird sich grundlegend verändern, wenn das Tribunal de Grande Instance 2018 ins 17. Arrondissement umzieht, weit weg von der feierlichen und verschlungenen Atmosphäre des alten Palasts. «Als Nicolas Sarkozy 2010 diesen Umzug ankündigte, hat dies meine Rückkehr in den Justizpalast beschleunigt. Ich wusste, dass ich eines Tages zurückkehren würde, aber nicht, dass es so bald geschehen würde. Die bevorstehende Auflösung war eine starke Motivation.»

Nach hunderten von 50-Sekunden-Bei­trägen für die Abendnachrichten geht Yamina Zoutat nun neue Wege. Sie hat zum Film gefunden. Ein anderes Publikum, ein anderes Format, ihre Handschrift nunmehr flüssig, persönlich und poetisch, nimmt sie sich Zeit, sich den Themen sanft zu nähern. Wie bei ihrem letzten Kurzfilm dreht Yamina Zoutat auch für «Retour au Palais» allein. «Bei TF1 war ich Redakteurin, ich filmte nicht selbst. Deshalb verspürte ich den starken Drang, den Justizpalast filmend zu erkunden.» Und: «Ce documentaire, c’est l’aventure de mon corps dans ce lieu.» 
 

Mit Leiden konfrontiert

Die Jahre am Strafgericht haben ihre Spuren hinterlassen. «Ich habe viele Geschichten gespeichert, alles hat sich in mir festgesetzt», sagt sie und legt sich die Hand auf die Brust. Wie Kriegsberichterstatter – allerdings ohne akute Gefahr – sind auch Gerichtsreporter täglich mit Leiden konfrontiert. Sie sind ihm ausgesetzt, direkt und schmerzlich, und müssen stumm zusehen. «Die Waffen sind sichergestellt, die Leute werden auf Distanz gehalten, doch die Sprache ist unglaublich gewalttätig.» Um standzuhalten, hat Yamina Zoutat geschrieben: «Alles, was ich als Berichterstatterin nicht sagen konnte, habe ich in Notizen festgehalten.» Auf Seiten, die sie im kleinen Café an der Place Dauphine beim Justizpalast füllte, wo auch wir uns trafen – und die auch im Film ihre Spuren hinterlassen.

Auch ihr erster Kurzdokumentarfilm «Les lessiveuses» über Mütter von Sträflingen, die jede Woche die Wäsche ihrer Söhne waschen und ins Gefängnis zurückbringen, entstand aufgrund dieser Notizen. Ein Thema, das von ihrem Interesse für Menschen in einem extrem normierten Umfeld zeugt. Dies war auch der Grund, weshalb ihr damaliger Vorgesetzter sie als Praktikantin den ausgebildeten Rechtsanwälten und Juristen vorzog, die ebenfalls Gerichtsreporter werden wollten. «Wir sind auf Geschichten aus, nicht auf technische Details. Dies war es auch, was mich an einem Medium für das breite Publikum interessierte. Mein Vater sah sich regelmässig die Abendnachrichten auf TF1 an, ich kenne das einfache Publikum. Es hat mich immer interessiert, die Justiz allen zugänglich zu machen.» 
 

Das System lässt sich nicht ändern

Eigentlich wollte sie nur ein paar Monate bleiben, um die Maschinerie des Fernsehens zu studieren. Schliesslich blieb sie zwölf Jahre. «Mit 24 Jahren dachte ich, ich könnte das System von innen verändern», bekennt die Vierzigjährige schmunzelnd. «Ich war von Anfang an gefesselt von der Gerichtsberichterstattung, sie hat mich sofort in ihren Bann gezogen.» Schliesslich ist es das Format der Fernsehnachrichten, das sie zum Aufhören bewegt. Sie muss sich eingestehen, dass sie das System nicht ändern konnte.

Obwohl sie bereits als Fünfzehnjährige vom Filmemachen träumte, wagte sie es damals nicht, diesen Weg einzuschlagen: «Als ich das erste Mal mit meiner Mutter in Paris war, ging ich gleich nach unserer Ankunft zum Gebäude des IDHEC (der heutigen Fémis), wo man mir eine sehr schöne Broschüre mit allen Studiengängen überreichte. Das hat mich zutiefst eingeschüchtert! Ich habe diesen Wunsch sehr lange unterdrückt, um mich dem Journalismus zu widmen. Ich fühlte mich dem nicht gewachsen, niemand in meiner Familie hatte je einen solchen Beruf ausgeübt. Ich bin sicher, dass ich diese Broschüre noch irgendwo habe.» So wurde das Strafgericht zu ihrer Filmschule – einem Ort, wo man lernt, Dramen in mehreren Akten anzusehen und anzuhören.
 
«Retour au Palais» läuft in Nyon am 23. April um 14:00 im Internationalen Wettbewerb.

▶  Originaltext: Französisch

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