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Courgettes Geburt dauerte 10 Jahre

Pascaline Sordet
10. Februar 2017

Es gibt keine Wunderrezepte. Einen Film zu machen, ist jedesmal ein Abenteuer, ungeachtet des Genres oder der Filmlänge; die Branche kann immer etwas dazulernen. Case Studies in Cinébulletin sollen Erfahrungen von Produktionen schildern, die ja nie linear verlaufen. In der ersten Fallstudie steht «Ma vie de Courgette» von Claude Barras im Fokus, der von Rita Productions produzierte, lange Animationsfilm mit beispiellosem Erfolg an ­Festivals und einer Oscarnomination. An einer Focal-Tagung im Dezember 2016 schilderte Claude Barras detailliert den zehn Jahre dauernden Herstellungsprozess. Eine Zusammenfassung.

Von Pascaline Sordet

 

Von der Idee aufs Papier

«Ma vie de Courgette» ist nicht aus dem Nichts entstanden – im Gegenteil. Die Kurzfilme von Hélium Films, einer 2004 von Claude Barras und Cédric Louis gegründeten Gesellschaft, waren ein guter Nährboden. «Banquise», «Le génie de la boîte de raviolis» und «Sainte-Barbe» ermöglichten dem Regisseur und seinem Team, neue Welten und Kompetenzen zu entwickeln. Doch die Herausforderung eines Langfilms zwang sie, in einer komplexeren Struktur mit vielen verschiedenen Filmsets zu arbeiten. «Es ist kompliziert, viel herumreisen zu müssen und unregelmässig zu arbeiten. Das erfordert viel Flexibilität im Privatleben», sagt Claude Barras. «Ein Film, der mehrere Millionen Franken kostet, belastet einen enorm und kann einem Angst machen.» 

Der Film ist nicht rasch entstanden. Zwischen den gemeinsamen Kurzfilmen arbeiteten Claude Barras und Cédric Louis fünf Jahre an einem 30-seitigen Treatment und an den ersten grafischen Entwürfen. Schon bald kamen Fragen zur Machbarkeit des Projekts auf. Claude Barras erinnert sich, dass der damalige Produzent Robert Boner befürchtete, der Film könnte für die Zuschauer wegen der grossen Köpfe zu ermüdend sein. Er war nicht der einzige wohlmeinende Kritiker: Andere interessierte Produzenten zweifelten an den Figuren und fragten sich, ob «sie auch wirklich Emotionen vermitteln können». Um diese Vorbehalte auszuräumen, schlug Robert Boner vor, einen Teil des Filmentwicklungsbudgets in einen Pilotfilm zu investieren.

Die Geschichte war schwierig zu verkaufen, und der Name des Helden, Courgette (Zucchini) alles andere als attraktiv. «Eine Herausforderung», schmunzelt Claude Barras. Der Pilotfilm inszeniert ein fiktives Casting für die Person Courgette, sodass die Geschichte ganz einfach mit einer Prototyp-Marionette erzählt werden kann. Die In­spiration dazu kam unter anderem von «Crea­ture Comforts» des Studios Aardman, einer Serie von Interviews mit Zootieren über ihre Lebensbedingungen. Der Regisseur lässt sich von der Härte des Stoffes nicht abschrecken und glaubt an ein «Wiederaufleben des Melodramas für Kinder». Er habe sich auf Filme gestützt, die er als Kind geliebt habe: «Heidi», «Rémi sans famille», «Les quatre cents coups», die alle von einer unglücklichen Kindheit handeln.

Im Pilotfilm konnte einiges verfeinert werden, was manche als Handicap betrachtet hatten. «Ich habe mit diesem Film und dem Drehbuch viel gelernt. Was stört, muss entweder ganz entfernt, mutig in Szene gesetzt oder akzeptiert und über die Figuren weiterent­wickelt werden.» Ein Rat, der dem Trickfilmer am Herzen liegt: «Macht etwas Originelles, Einfaches; erzählt eine Geschichte. Ich habe viele Pilotfilme gesehen, und allzu oft ging es eher um eine technische Demonstration oder man sah einen Ausschnitt, der als solcher schwer verständlich war. Es ist besser, die Neugier zu wecken, als zu zeigen, wie gut man etwas machen kann.»
 

Vom Papier aufs Set

Das Storyboarding beginnt – auf Post-it-Zetteln –, und sogleich entstehen die ersten Unstimmigkeiten. Blue Spirit, der französische Koproduzent, hat sehr klare Vorstellungen davon, was Kinder mögen, und er pflegt eine effiziente Arbeitsweise, die sich eher am Fernsehen orientiert und sich vom Vorgehen des künstlerischen Teams unterscheidet: «Meine Mitarbeiter kennen meine Methode, doch bei Blue Spirit hatte man grosse Angst davor. Schliesslich überzeugten sie mich, ein Clean, also eine präzise Version des Story­boards zu machen, damit alle Beteiligten konkret sehen konnten, was gefilmt würde. Weder das eine noch das andere System ist besser, doch es mussten die deutlichen kulturellen Unterschiede zwischen der französischen Serienproduktion und der Schweizer Tradition der Autorenkurzfilme, aus der ich komme, überwunden werden.» Deshalb sei es wichtig, den Produzenten gut auszuwählen, sagt der Animationsfilmer. 

Weitere Differenzen zwischen dem Filmteam und den französischen Produzenten ergaben sich bei der Aufnahme der Stimmen – mit spielenden Kindern statt im Studio. Doch diese Methode half den lebendigen Ton der Romanvorlage wiederzugeben (der Film ist eine Adaptation) und diente den Animatoren zugleich als Inspiration. Manche Szenen wurden übersprungen, andere neu geschrieben; wie bei einer Probe vor dem Dreh. 

Dass alle dasselbe Ziel hatten, nämlich den Film mit dem verfügbaren Geld fertigzustellen, konnte das Aufkommen konfliktreicher Momente dennoch nicht verhindern.  Die Arbeit an «Courgette» kam zweimal zum Stillstand. «Das erste Mal, wollte man mich dazu bringen, den Film in 3D zu machen; dann bat man mich inmitten der Dreharbeiten, den Film fürs Fernsehen auf 52 Minuten zusammenzuschneiden.» 

In solchen Momenten grosser Spannungen kommt es auf die Beziehung zu den Produzenten und auf die Vertragsbedingungen an: «Wir hatten beschlossen, dass alle endgültigen Entscheide in jeder Produktions­phase einstimmig gefasst werden mussten. Damit wollten wir verhindern, dass der Regisseur den Film infolge Budgetüberschreitung zu Fall bringt oder ein Produzent sich gewaltsam durchsetzen kann.» Dank des unerschütterlichen Vertrauens zwischen Claude Barras und Max Karli, dem Schweizer Produzenten von Rita Productions, konnten die Konflikte entschärft werden.

Sachzwänge seien nicht als Frustrationen empfunden worden, sagt Barras: «Jedes Hindernis kann zu einer Chance werden, wenn man es als Herausforderung betrachtet. Die zu Beginn umstrittenen runden Augen kommen bei den Zuschauern heute besonders gut an.» 

In diesem Punkt profitierte «Ma vie de Courgette» von den Erfahrungen und vom Know-how bei der Entwicklung eines anderen langen Animationsfilms aus der Schweiz, «Max & Co». Eine der technischen Fallen im Film der Brüder Guillaume war, den Figuren keine uniformen Augen zu geben, was die Herstellung von hunderten animierten Lidern erfordert hat. In Barras Film ermöglichte die Wahl eines offensichtlich problemlosen Designs eine Vereinfachung bei der Filmproduktion.
 

Vom Set auf die Leinwand

Claude Barras und seine Assistentin Marianne Chazelas montierten den Film abends und an Wochenenden parallel zu den Dreharbeiten und übergaben ihn dann dem Cutter Valentin Rotelli, der ihm zusätzliche Dynamik verlieh, «obwohl ich dachte, der Film sei praktisch fertig». Anschliessend begann der Monat der Postproduktion … aus dem acht Monate werden sollten. Die Bluescreens waren wegen der Tiefenschärfe schwierig freizustellen, sodass jedes Bild einzeln bearbeitet werden musste. Angesichts dieser Hürde schätzte sich der Regisseur besonders glücklich, einen Produzenten zu haben, dem das Endergebnis am Herzen lag, der bereit war, sich die nötige Zeit zu nehmen, auch wenn dies eine Nach­finanzierung erforderte. 

Zu diesem Zeitpunkt stösst Michel Merkt dazu. Der Verfechter des Autorenfilms erfährt von den Schwierigkeiten. Von Courgettes Geschichte berührt, beschliesst er zu investieren. Er begleitet den Film anschliessend nach Cannes, dann auf den amerikanischen Markt im Rennen um die Golden Globes und die Oscars. Doch im Animationsbereich dominieren die Amerikaner: Sie verfügen über enorme Summen (für Produktion und Promotion), über schöne und gut konstruierte Geschichten und einen Humor, der den Kindern als Schutzfilter dient. Schwierig für Courgettes Geschichte, sich da zu behaupten. Angesichts dieser David-und-Goliath-Situation verweist Claude Barras auf die Vielfalt seiner Geschichten und auf die Stärke eines Films, der bei seinem Kinostart alle vorhandenen Zweifel hinter sich gelassen hat. Es bleiben die unüberbrückbaren kulturellen Unterschiede: Die Zeichnung des Pimmels von Monsieur Paul gilt als «full frontal nudity», der Film ist in den USA für Kinder unter 13 Jahren verboten. Der Regisseur lacht, sein amerikanischer Verleiher ebenfalls.

Es folgt eine intensive Promotionsarbeit über mehrere Monate: Cannes im Mai 2016, dann der Kinostart und die Césars und Oscars im Februar 2017. Diese Arbeit wird laut Vertrag nicht vergütet, weder dem Regisseur noch dem Produzenten. Obwohl sie für die Sichtbarkeit des Films und dessen Erfolg im Kino entscheidend ist. Was vor 15 Jahren bei einem Kinostart noch eine normale Filmbetreuung war, hat sich heute – wenn der Film Festivalpotenzial zeigt – in einen veritablen Vorpremieren-Marathon verwandelt, denn nur so sind die Präsenz in den Medien und die Mundpropaganda gesichert.

Der Organisator der Focal-Tagung für Schweizer Trickfilmer, Fred Guillaume, blickt in die Zukunft: «Courgette zeigt, dass ein Schweizer Animationsfilm international Erfolg haben kann. Das stärkt der Kultur­politik den Rücken. Die Politiker schauen sich den Film an und sehen, dass das Geld erfolgreich investiert wurde und Rückflüsse in die ganze Branche generiert.» Klar ist auch, dass das Publikum auf ungewohnte Filme gut reagiert und damit den Weg, den «Kirikou et la sorcière» oder «Les Triplettes de Belleville» ebneten, bejaht. Der Regisseur ist sich bewusst, dass es in Bezug auf die Produktion kein Vorher oder Nachher gibt, doch Courgette habe das Image des Schweizer Films verändert.

Bis er weiss, ob er eine goldene Statuette erhält, bereitet Claude Barras einen zweiten Langfilm über das Abholzen der Wälder vor, den er zu pitchen begonnen hat und der ähnliche Befürchtungen weckt wie der erste. Sobald die Figuren von «Ma vie de Courgette» ihre Weltreise beendet haben, wird er sich Ferien leisten, bevor er sich dann für einige Jahre wieder an die Arbeit setzt.

▶  Originaltext: Französisch

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