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«Nachholbedarf gibt es genügend»

Kathrin Halter
17. Juni 2016

Marc Flückiger, Präsident der «Schweizerischen Kommission Jugendschutz im Film», über Sinn und Grenzen von Altersfreigaben, Polizeikontrollen im Kino, Freigaben ab 0 und Defizite im Internet.

Das Gespräch führte  Kathrin Halter

Nennen Sie bitte ein Beispiel für einen Film wo es kontroverse Diskussionen wegen der Altersfreigabe gab.
Meist sind das bei uns weniger Fragen zur Sexualität als zum Thema Gewalt. «Hunger Games» ist ein gutes Beispiel. Schon im ersten Teil des Mehrteilers geht es darum, dass sich in den «Hungerspielen» Jugendliche töten müssen, also nur überlebt, wer andere in der Freilichtarena umbringt. Die Szenen sind teils sehr explizit. Die Frage, ob der Film ab 12, 14 oder 16 freigegeben werden soll, wurde sehr kontrovers geführt. 

Andere wiederkehrende Fragen, die immer wieder Anlass zu Diskussionen geben?
Die Freigabe «ohne Alterseinstufung», also ab 0 Jahren. Hier gibt es immer wieder Rekurse, dann müssen Filme von der Kommission ein zweites Mal visioniert werden. 

Ist dieses «Rating 0» nicht überhaupt unsinnig? Niemand schaut mit einem Baby Filme...
Die Bezeichnung 0 ist sehr unglücklich gewählt, das hat man von der FSK so übernommen. Damit ist sicher nicht gemeint, dass man mit einem Baby ins Kino gehen soll. Der Begriff in der Westschweiz ist viel treffender: Da spricht man von «tout public». Was heisst, dass jedermann diesen Film sehen darf – und dass auch keine Szenen enthalten sind, die bei Kindern Albträume verursachen könnten. Viele Dokumentarfilme gehören in diese Kategorie – Filme, die Kinder wahrscheinlich furchtbar langweilig fänden. Darin liegt ja die Unterscheidung zwischen Zutrittsalter und empfohlenem Alter: Das erste berücksichtigt den Schutz des Kindes vor möglichen psychischen Schäden. Beim empfohlenen Alter kommen mehr Aspekte wie Verständlichkeit ins Spiel, es ist gerade für interessierte Eltern die bessere Richtschnur. 

Was bringen Alterfreigaben aus Ihrer Sicht? Werden diese von Eltern überhaupt beachtet? 
Man kann die Alterfreigabe von Filmen mit anderen Jugendschutzmassnahmen wie der Altersgrenze beim Verkauf von Alkohol vergleichen. Nun wissen wir von Testkäufen, dass sich dort bis zu 50 Prozent der Geschäfte nicht daran halten, also könnte man daraus schliessen, dass das Verbot nichts bringt. Trotzdem besteht ein gesellschaftspolitischer Auftrag, alles zu tun, um Kinder und Jugendliche zu schützen. Das gilt auch für den Kinder- und Jugendmedienschutz – auch wenn wir alle wissen, dass Filme nicht nur im Kino konsumiert werden. Die zweite Ebene betrifft die Eltern. Viele von ihnen gehen auf Websites wie filmrating.ch, in der Westschweiz auf ­filmage.ch, und orientieren sich dort; die Nutzerzahlen sind jedenfalls recht gut. Trotzdem gibt es selbstverständlich Eltern, die das überhaupt nicht kümmert. 

Führen Kinos Kontrollen durch?
Kinos sind verpflichtet, an der Kasse das Alter anzuschlagen; auch cineman und andere Kinoplattformen publizieren übrigens die Freigaben. Es fehlt aber an durchsetzbaren Vorschriften in diesem Bereich. Und ja, in den Kinos wird kontrolliert: die Reklamationen, die wir erhalten, zeigen es. Es gibt übrigens etwa gleich viel Reklamation von Eltern, die sich beschweren, dass sie mit Kindern keinen Eintritt erhielten, wie von Leuten, die beanstanden, dass nicht kontrolliert worden ist. 

Und wo liegen die Grenzen der Freigaben aus Ihrer Sicht?
Die grösste Herausforderung liegt darin, dass Streamingdienste und andere Internetplattformen bei Jugendlichen eine immer grössere Rolle spielen. Man braucht dort ebenso griffige Massnahmen wie im Kinobereich. Zudem brauchen wir klare gesetzliche Grundlagen für die ganze Schweiz – auch, um sanktionieren zu können. Während Verkäufe von DVDs wegen Streamingdiensten stark am schrumpfen sind, bleiben die Kinoeintritte relativ stabil. 

Die JIF bewertet ausschliesslich Kinofilme. Für die Altersklassierung von DVDs und Blu-rays ist der Schweizerische Videoverband (SVV) zuständig. Macht diese Aufgabenteilung Sinn? 
Bei Videos und beim Streaming liegt die Verantwortung primär bei den Eltern, nicht bei den staatlichen Stellen. Anders bei den öffentlichen Kinos; da ist der Staat in der Pflicht. Sämtliche Filme, die neu in den DVD-Handel gelangen, müssen angemeldet werden. Diejenigen ohne FSK-Alterskennzeichen erhalten eine Klassierung vom Schweizerischen Videoverband. Im Bereich des Streaming fehlen derzeit klare gesetzliche Regelungen. Anbieter wie Cablecom oder Swisscom und auch das Fernsehen sind aber zunehmend dazu übergegangen, ihre Produkte mit Alterskennzeichnungen zu versehen. Im deutschsprachigen Bereich sind das üblicherweise die FSK-Angaben. Nachholbedarf gibt es genügend. Heute sind die Regelungen einfach zu unübersichtlich und lückenhaft. Jetzt hoffe ich, dass der Bundesrat eine positiven Entscheid zu einer nationalen Gesetzgebung trifft. Ein national geregelter, griffiger und vernünftiger Kinder- und Jugendmedienschutz ist aus meiner Sicht überfällig. 

 

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