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Der Film, der Sie zum Helden macht

Pascaline Sordet
17. Juni 2016

«Late Shift» ist der erste interaktive Film. Konzipiert von einem Zürcher Unternehmen, inszeniert vom Schweizer Tobias Weber, macht es «Late Shift» Zuschauern möglich, an Stelle des Protagonisten Entscheide zu fällen. 

Von  Pascaline Sordet

Um sich «Late Shift» anzuschauen, braucht man nicht den Kinostart oder eine Festivalvorführung abzuwarten. Es genügt, wenn man sein Smartphone aus der Tasche zieht und eine App herunterlädt. Ein kleines Display, die Finger im Spiel, und schon ist man mit von der Partie. Die App bietet den Film unterteilt in Kapitel an. Das erste Dilemma zu Beginn des Plots: Soll ich einem Passanten den Weg erklären, obwohl ich dann möglicherweise meinen Zug verpasse? Diese erzählerische Weggabelung ist bezeichnend für alle folgenden. Es geht immer darum, eine Entscheidung zu treffen, ohne dass man deren Folgen abschätzen kann. Der Protagonist, ein Nachtwächter in einer Tiefgarage, wird ungewollt in einen Raub­überfall verwickelt, von der Polizei verhaftet und von drei Chinesen verfolgt – zumindest in der Version, die sich aus meinen Spielentscheiden ergibt.  

Sieben Verlaufsoptionen

Das grosse Plus an diesem Film: Er misst den psychologischen Aspekten mehr Gewicht bei als der Action, er ist professionell gemacht, und es macht Spass, Einfluss nehmen zu können. Habe ich den Film nun geschaut oder «gespielt»? Der Produzent Baptiste Planche sagt, sein Team habe schon während des Pilotprojekts bemerkt, wieviel reizvoller das Spiel mit zwischenmenschlichen Beziehungen und Dialogen ist. «Interaktivität ist in allen Genres möglich. Sie würde auch in einer romantischen Komödie wunderbar funktionieren.» 

Wir befinden uns nicht in der Welt der Videospiele, vielmehr lotet der Zuschauer die Ambivalenzen des Protagonisten aus und leistet erzählerische Arbeit: Im Spiel werde ich zur Hauptfigur und gleichzeitig zur Drehbuchautorin. Die Erfahrung ist aufregend. Es gibt sieben Verlaufsoptionen, und ich kann den Film mehrere Male «spielen», indem ich einmal mehr oder weniger zynisch, das andere Mal mehr oder weniger egoistisch bin. Es stehen vier bis fünf Stunden Bildmaterial zur Verfügung, in denen die Klicks über Zusammenarbeit oder Widerstand, Kampf oder Flucht, Misstrauen oder Vertrauen entscheiden. Ich gehe davon aus, dass ich die Spannungselemente gut genug kenne und genügend Filme gesehen habe, damit ich den Helden dorthin führen kann, wo ich ihn haben möchte. Allerdings kann ich seine Komplizin nicht retten, obschon das mein Ziel war.

Das Drehbuch von Tobias Weber und Mitautor Michael Robert Johnson ist zwangsläufig mehrspurig und basiert auf einer linearen Basiserzählung, einem Krimi. Die Konstruktion ist zentral, erklärt Baptiste Planche: «Wir haben lange darüber gebrütet, da keiner von uns Erfahrungen mit diesem Format hatte». Als die Hauptfigur entwickelt war, mussten Varianten ausgedacht werden. «Wir wollten uns am Kinofilm orientieren, uns an dessen Regeln halten, eine Figur schaffen, die Entscheidungen treffen muss, und wir wollten Lösungen für die Probleme dieser Person finden und etwas über ihn und seine Welt erfahren.» Je nach Verlauf der Geschichte merkt der Protagonist, dass er nicht alles kontrollieren kann und erlebt sich, «in beinahe moralistischer Weise», als mehr oder weniger tugendhaft.

Im Kino entscheidet die Mehrheit 

Die von der Firma CtrlMovie entwickelte Software ist technisch so leistungsfähig, dass Unterbrüche im Filmerlebnis ausbleiben. Die Entscheide müssen sehr schnell getroffen werden, was zur stärkeren Identifikation beiträgt, wobei das Bild nicht einfriert, bis ein Entscheidung gefällt ist. 

Das Team plant weitere eigene Projekte, ist jedoch so organisiert, dass es seine Software für Koproduktionen anbietet oder sie unter Lizenz zur Verfügung stellen könnte. «Als Unternehmen bleiben wir offen, erkennen aber das internationale Interesse und das Entwicklungspotenzial.» 

Finanziell betrachtet, hat dieser Projekttyp den Vorteil, dass die Finanzierungsgesuche sowohl bei den Anlaufstellen für den Film als auch bei jenen für Spiele und Digitalprojekte eingereicht werden können.

Der Film ist in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt. Neben der App gibt es auch eine Kinoversion: Bei Gruppenvorführungen gilt jeweils die Entscheidung der Mehrheit der Spielerinnen und Spieler, was eine völlig andere Erfahrung ermöglicht. «Late Shift» wurde in ausgewählten Kinos, bei Tagungen und an Festivals vorgestellt, man sucht aber auch einen Kinoverleih. 

«Wir zögern zwischen einer Anpassung ans traditionelle Vertriebsformat und etwas Neuem. Ich hätte eher Lust, eine neue Richtung einzuschlagen», sagt Baptiste Planche, «ein Pirat zu sein…».

«Late Shift» läuft am NIFFF (1. bis 9. Juli) und im Herbst im Rahmen von NIFFF ON TOUR.

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