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«Wo kann man die Filme noch sehen ausser an Festivals?»


17. Juni 2016

Von der rapiden Zunahme an Unterstützungsgesuchen über die mangelnde Sichtbarkeit von Filmen bis hin zu politischen Diskussionen: Gérard Ruey über Herausforderungen für Cinéforom und die gesamte Branche.

Das Gespräch führte Pascaline Sordet

Wie erklären Sie sich die explosionsartige Zunahme der Unterstützungsgesuche?
Mit der selektiven und der automatischen Filmförderung haben wir nun ein dauerhaftes System, das uns hilft, den Kurs zu halten. Doch wir werden von Gesuchen um selektive Hilfe überschwemmt – und wir sind nicht die einzigen. Der Wunsch, Filme zu machen, hat sich verstärkt. Ich nehme an, dass die Ausbildung teilweise dafür verantwortlich ist: Jedes Jahr kommen rund 20 Regisseurinnen und Regisseure auf den Markt. Im Grunde genommen ist der Anstieg der Anzahl Gesuche nur die logische Folge davon.

Haben Sie den Eindruck, dass vor allem die Gesuche der Nachwuchsfilmer zugenommen haben, während die anderen stabil bleiben?
Nein, doch man müsste genauere Statistiken haben. Die Ausbildung spielt sicher eine Rolle, aber auch die Produktionsunternehmen haben sich vervielfacht, wobei wir deren Zahl nicht regulieren können.

Es steht ja nicht mehr Geld zur Verfügung
Zudem sollten die Finanzhilfen nicht verzettelt werden, die Filme müssen unter guten Bedingungen entstehen können. Allerdings besteht das Risiko, dass das Verhältnis zwischen  Gesuchen und unterstützten Projekten abnimmt. Im Moment beträgt es 30%, was auch das Ziel war. Ein weiteres Problem stellt sich in Bezug auf die Gutachten: Wir brauchen deutlich mehr Expertinnen und Experten, die Kommissionen müssen doppelt geführt werden, was sehr teuer ist. Wir sind mit dem BAK in Kontakt und führen Gespräche mit anderen Fonds, denn diese Frage betrifft alle.

Vielleicht müsste man eine Erhöhung der Mittel anstreben?
Das ist bei der jetzigen Wirtschaftslage kaum möglich. Heute geht es darum, die Errungenschaften zu bewahren. Die Vereinbarungen mit den Kantonen Waadt und Genf laufen demnächst ab und werden neu ausgehandelt. Ich glaube nicht, dass ich die erhofften Erhöhungen erhalten werde, im Herbst wird viel Aufklärungsarbeit nötig sein, besonders in Genf.

Dabei zeigen die Zahlen, dass der grösste Teil der öffentlichen Gelder für die Löhne eingesetzt wird, das ist doch ein positiver Kreislauf. Haben die Politiker ein Gehör dafür?
Wir müssen besser informieren und die Zahlen erläutern. Da in der Romandie keine Pflicht besteht, die Ausgaben zu belegen, müssen die Produzenten keine genauen Zahlen bekanntgeben. Das ist schade, weil wir damit ein triftiges Argument hätten.

Haben Sie Lobbyisten?
Es liegt an der Branche, über das Forum romand aktiv zu werden. Im Stiftungsrat von Cinéforom sitzen einige Behördenmitglieder, das ist heikel. Hingegen ist es meine Aufgabe,  die Anliegen zu erklären. 

Was wird Cinéforom konkret unternehmen?
Wir müssen unseren Auftritt gegen aussen stärken, insbesondere in politischen Kreisen und in den Medien. Das ist eines meiner Ziele. Unsere Kommunikation sollte überdacht und die Zahlen müssten besser erläutert werden. Im Kino zeigen wir Spots, die den Kinostart der unterstützten Filme ankündigen. Wir versuchen, an Vorpremieren und an Festivals vermehrt präsent zu sein.

Sie erwähnten die Vervielfachung der Produktionsfirmen.
Wir können den Unternehmergeist der Leute nicht unterdrücken.

Ihre Statistiken zeigen, dass viele Gesuchsteller nur einmal unterstützt werden. Das könnte in Bezug auf die Kontinuität problematisch sein.
Im Dokumentarfilm gibt es viele Autoren-Produzenten, die alle vier Jahre einen Film machen, das beeinflusst diese Zahl. Firmen verschwinden oder Partner trennen sich und bauen kleinere Strukturen auf. Das Ziel der Professionalisierung der Branche ist nicht erreicht; die Branche ist in ständiger Bewegung.

Haben Sie schon daran gedacht, die Zulassungsbedingungen zum Produzenten­register zu ändern?
Das wäre eine Möglichkeit, doch es würde bedeuten, dass man junge Produzentinnen und Produzenten abblockt, die in den Beruf einsteigen möchten. Das können wir nicht steuern. Es braucht bei uns keine Bewilligung fürs Produzieren. Zudem kann man nicht davon ausgehen, dass eine etablierte Produktionsfirma zwangsläufig bessere Filme macht. Wir bewegen uns ja nicht in einem Industriezweig, sondern einem Handwerk. 

Werden wir die Herausforderungen meistern?
Die Schweiz ist heute ganz schlecht aufgestellt. Die einzig Erfolgreichen sind die Belgier, die einen anderen Weg gewählt haben: Sie haben ein wirksames Tax-Shelter-System mit einer Steuervergünstigung für private Investitionen in die audiovisuelle Produktion eingeführt (aktuell 18 Mio. Euro pro Jahr). Ausserdem basieren die Regionalsubventionen ausschliesslich auf wirtschaftlichen Kriterien; die Experten prüfen den Inhalt nicht.

Doch sie produzieren interessante Filme...
Und sind auf industrieller Ebene höchst präsent und professionell. 

Das ist ein ganz anderer Ansatz. Wäre er in der Schweiz erwünscht und umsetzbar?
Man muss das System nicht grundlegend verändern, doch gäbe es Anreizmechanismen, stünden wir in der Schweiz besser da. Die Vorstellung, eine Steuervergünstigung zu gewähren und den Privatsektor entscheiden lassen, wo er sein Geld investieren will, ist für die Politiker definitiv noch keine Option, und zwar weder für die rechten noch für die linken. Zudem kompliziert der Föderalismus die Einführung dieser Form von Finanzierung.

Welchen Herausforderungen wird sich Cinéforom mittelfristig stellen müssen?
Die erste betrifft die Sichtbarkeit unserer Filme. Die Ergebnisse 2015 sind doch zugegebenermassen eine Katastrophe! Die Digitalisierung brachte den Markt durcheinander, und es gab keine Schutzmechanismen gegen den Ansturm der Blockbusters auf unsere Leinwände. Doch man kann den Kampf nicht nur in den Sälen führen, es braucht andere Massnahmen. Ich plädiere dafür, dass alle Filme, die von Cinéforom und dann vom BAK unterstützt werden, auf einer frei zugänglichen und kostenlosen VoD-Plattform verfügbar sind, die von der Cinémathèque abhängen sollte. Doch dafür müssten die Produzenten die nicht-kommerziellen Rechte an ihren Filmen nach 4 oder 5 Jahren abtreten. Das wäre eine legitime Gegenleistung dafür, dass wir Finanzhilfen gewähren.

Wie viel Geld bringen diese Rechte noch ein?
In der Schweiz ist das marginal, es ist eher eine psychologische Angelegenheit. Man muss dieses Thema ansprechen, denn der Trend geht in diese Richtung. Ken Loach hat all seine Filme auf Youtube gestellt…

Auch Climages haben zur Feier seines 30-jährigen Bestehens ihre Filme kostenlos verbreitet.
Damit hat Climages ein Coup gelandet, das war eine gute Idee. 

Die Diskussion ist also vor allem eine politische. Doch was ist mit den Kinobetreibern, die sich aus den Diskussionen merkwürdigerweise herauszuhalten scheinen?
Ihre Situation ist kompliziert, sie verfolgen nicht einmal untereinander eine klare Linie und stehen in Konkurrenz. Die Produzenten  müssten erstmal mit den Verleihern das Gespäch suchen. Dann erst kann man sich an die Kinobetreiber wenden. Geld für die Produktion ist da, es werden Projekte realisiert  – doch wo kann man sie noch sehen, ausser an Festivals?

Und die zweite Herausforderung?
Mittelfristig werden wir uns fragen müssen, ob wir dem traditionellen Kinofilm treu bleiben oder uns mehr mit neuen Trägermedien, Videospielen und virtueller Realität auseinandersetzen sollten. Europa bewegt sich, Zürich möchte einen 40-Millionen-Fonds errichten. Zudem ist das Fachwissen bei uns vorhanden. Man weiss zwar nicht genau, wohin die neuen Entwicklungen führen und kennt die Wirtschaftsmodelle nicht, deshalb spreche ich von mittelfristig. Das geschieht nicht von heute auf morgen, doch wir sollten darüber nachdenken.

 

Am 1. Januar 2016 trat Gérard Ruey seine Stelle als Geschäftsführer von Cinéforom an, nachdem er lange als Produzent für CAB productions gearbeitet hatte. Aus der Firma hat er sich inzwischen aber zurückgezogen und alle wirtschaftlichen Verbindungen zu ihr gekappt. Dennoch möchte er die Erfahrung nicht missen – nach 30-jähriger Zusammenarbeit. Sein Berufswechsel macht es möglich, sein Wissen in den Dienst der Branche zu stellen, denn Ruey findet es wichtig, dass Cinéforom von «Branchenleuten und nicht von Wirtschaftsexperten oder Juristen» geführt wird, damit die Stiftung der Realität gerecht wird. 
Er sei noch am Lernen, sagte er, als er die Stelle antrat, doch er kenne die Stiftung schon gut. Der filmpolitisch Erfahrene hatte an den Gesprächen teilgenommen, die zur Stiftungsgründung führten, und in der Arbeitsgruppe mitgewirkt, die bei institutionellen Partnern Überzeugungsarbeit leisten sollte. Seit sechs Monaten lernt er die Subtilitäten des Förderinstruments, das informatische und statistische System sowie das Team besser kennen. Er ist beeindruckt: «Ich kannte das Schiff von aussen, nun stehe ich mitten im Maschinenraum».

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