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Fantasy,  ein Spielraum für visuelle Experimente

Pascaline Sordet
17. Juni 2016

Im Fernsehen, im Autorenfilm: Fantasy-Motive finden sich immer häufiger auch in Schweizer Produktionen. Die Beliebtheit geht mit technologischen Entwicklungen einher und dürfte ein neues Publikum erschliessen.

Von Pascaline Sordet

Die Schweizer mussten nicht auf die digitale Revolution warten, um Fantasy-Filme zu machen. Bereits 1915 setzte Giovanni Zannini in «La coscienza del diavolo» den Teufel in Szene; auch die Science-Fiction entwickelte sich in der Schweiz mit Filmen wie «Le roman fantastique du Dr. Mercanton» von Albert Roth-de Markus (1915) und «Das Fluidum» von Konrad Lips (1918), die beide als verloren gelten. Das Genre blieb jedoch marginal und versuchte eher, eine subjektiv verzerrte Sicht darzustellen als sich radikal von den Naturgesetzen zu entfernen. Trotz seinem Nischendasein hat das Genre in der Schweiz eine genügend lange Tradition, damit das Festival des Fantastischen Films in Neuenburg 2010 eine grosse Retrospektive mit über 30 Werken organisieren konnte. Darunter «Black Out» von Jean-Louis Roy, der von einem Rentnerpärchen handelt, das sich in ängstlicher Erwartung eines Kriegs mit Vorräten im Haus einschliesst. Der Film nehme zwei wichtige Themen des fantastischen Films in der Schweiz zwischen 1970 und 2000 vorweg: Verzerrung des Bewusstseins und die imminente Gefahr einer sozialen, politischen oder ökologischen Katastrophe, sagt Michel Vust in «Panorama des fantastischen Films in der Schweiz» (publiziert von Pro Helvetia).

«Black Out» scheint auch auf später entstandene Filme wie «Home» oder «Heimatland» zu verweisen. Letzterer wird in Neuenburg im Rahmen einer neuen Sektion gezeigt, Amazing Switzerland, die ausschliesslich dem schweizerischen Fantasy-Film gewidmet ist. «Es ist klar, dass die Schweiz nicht die Nummer eins des fantastischen Films ist. Sie war es nie und hat auch keinen Anspruch, es zu werden. Doch wir möchten die Regisseurinnen und Regisseure unterstützen, die diesen Weg einschlagen», sagt die Festivaldirektorin Anaïs Emery. Das Filmgenre habe an Selbstvertrauen gewonnen und sie habe den Eindruck, «dass ein Generationenwechsel stattgefunden hat. Man hat sich von den Stereotypen befreit, unter denen das Genre gelitten hat. Die digitale Revolution erweitert den Spielraum für Imagination und visuelle Experimente.»

Welche Art von Fantasy?

Fragt man nach den verschiedenen Erscheinungsformen des Fantastischen, so muss man den Begriff weit fassen. Oft sind die Codes des Genres erkennbar, dominieren aber nicht: Es reicht, wenn man über das, was man sieht, zu zweifeln beginnt, damit ein Film in diese Kategorie fällt. Anaïs Emery schildert es treffend: «In Autorenfilmen entdeckt man Spuren von Fantasy in visuellen Metaphern oder surrealen Elementen.»

Auch «Aloys» von Tobias Nölle, Anfang dieses Jahr im Kino herausgekommen, wird in der neuen Sektion zu sehen sein. Der Spielfilm erzählt die Geschichte eines Privatdetektivs, der um seinen Vater trauert und sich während Telefongesprächen in seine suizidale Nachbarin verliebt. Am Telefonhörer hängend, stellt er sich die Welt vor, von der sie sich erzählen und die sich buchstäblich materialisiert. «Ich weiss nicht genau, weshalb der Film an einem Festival für fantastische Filme gezeigt wird», sagt Regisseur Tobias Nölle, «alles, was ich beschreibe, könnte in Wirklichkeit geschehen, es gibt keine Wunder oder Irreales. Die Protagonisten schaffen mit ihrer Imagination vielmehr eine eigene Welt.» Aber diese fiktive Welt manifestiert sich visuell mit solchem Einfallsreichtum, dass «Aloys» an eine Form von magischem Realismus erinnert, bei dem Tiere zu Vermittlern von Emotionen werden und Worte eine veritable Inkarnationskraft entwickeln. «Ich hätte denselben Film mit realistischen Dialogen machen können, doch ich suchte Bilder, die keine Erklärungen, keine Kontextualisierung oder psychologisierenden Aspekte brauchen.» Das Fantastische ist hier vor allem Poesie.

Eine sanfte Revolution

«Schon als wir das Kurzfilmprogramm einführten, sagte man uns, wir würden zu wenige Filme finden », erinnert sich Anaïs Emery. «Doch seit zehn Jahren wächst die Beliebtheit des Programms, und es gibt unzählige spontan eingereichte Vorschläge.» Woraus die Lust entstand, auch Langfilme zu zeigen. Die Entwicklung geht auch mit einem Paradigmenwechsel in der Rezeption des Fantastischen einher. Es hat den Touch des Schändlichen weit hinter sich gelassen und viele Produktionen für ein grosses Publikum erobert. Und zwar in einem Ausmass, dass sogar das Westschweizer Fernsehen mit «Anomalia» den Schritt ins Abenteuer wagt. Die Autorin der Serie, Pilar Anguita-MacKay, ist überzeugt, dass das Konzept gut ankommt, weil es in der Geschichte in erster Linie um eine verlorene Identität geht und diese nicht als Vorwand für das Fantastische dient: «Die Heldin befindet sich in einem existenziellen Durcheinander, doch sie ist in ein Genre eingebunden, das unser Interesse für ihr Schicksal weckt.» Und theoretisch könnten sich eine Hausfrau um die Fünfzig wie auch ihr pubertierender Sohn in der Geschichte wieder erkennen, wenn man das Zielpublikum etwas klischiert beschreiben möchte.

Als Pilar Anguita-MacKay das Drehbuch für «Anomalia» zu schreiben begann, gaben viele dem Projekt keine grosse Chance: «Sie sagten mir, dass es nicht verwirklichbar sei, aber ich hatte ja nichts zu verlieren.» Die Drehbuchautorin mit chilenischen Wurzeln geht die irreale Dimension in ihrem Plot entspannt an: «Ein Genre ist eine Art, wie man eine Geschichte erzählt. Ich stamme aus einer Kultur, in der die Beziehung zu den Toten und zur Religion sehr präsent ist.» Eine Freiheit, die nicht zwingend zu einer Fixierung führen muss, betont Anaïs Emery: «Heute ist das kein Entscheid fürs Leben. Man kann einen Fantasy-Film machen und anschliessend etwas ganz anderes». Und zwar sowohl in Bezug auf das Drehbuch als auch auf die Regie, sind sich Pilar Anguita-MacKay und Tobias Nölle einig. Die Drehbuchautorin arbeitet, dank «Anomalia», an einer Fantasy-Serie für Arte, entwickelt aber gleichzeitig zwei völlig andere Projekte. Der Regisseur seinerseits fühlt sich «vollkommen frei von jedem Druck, solange ich in meiner Arbeit aufrichtig bleibe.»

Von Legenden inspiriert

Im Gegensatz zu «Aloys», der zu magischem Realismus neigt, folgt «Anomalia» einer anderen Tendenz des Fantastischen, jener nämlich, die sich von Schweizer Legenden inspirieren lässt. Die Erzählung spielt in der ländlichen Gegend um Freiburg, im Land der Hexen, und thematisiert die Heiler, deren Bedeutung in der Romandie erkannt wird. So ging man schon bei der Projektkonzipierung davon aus, dass das Projekt ein Publikum anziehen würde, das an diesen Fragen und nicht in erster Linie an Fantasie- und Traumwelten interessiert ist. Die Fernsehserie ist nicht das einzige Projekt in der Schweiz, das eine Legende als Grundlage für einen Kinofilm nimmt. Man erinnere sich an den Horrorfilm
«Sennen­tuntschi», in dem sich eine Puppe in eine junge Frau verwandelt, die sich für eine Vergewaltigung rächt, indem sie ihre Angreifer tötet und anschliessend ebenfalls Puppen aus ihnen macht. Pilar Anguita-MacKay ist mit Anaïs Emery einverstanden: «Wir sind einen Schritt weitergekommen, eine Tür hat sich geöffnet. Dieses Jahr sind die Projekte für Serien ambitionierter. Das Fernsehen hat gemerkt, dass das Publikum auf Originales erpicht ist.» Es gibt genügend Möglichkeiten, vom Pakt mit dem Teufel für die Gottharddurchquerung bis hin zu Winkelried, dem Drachentöter.

Science-Fiction und die digitale Welt bilden den dritten grossen Strang des Fantasy-Films. Diese Produktionen stossen in den Bereich der Videospiele vor und haben den Vorteil, dass sie ein anderes, meist jüngeres Publikum ansprechen als die Kinos. Das ist auch das Ziel der Schweizer Sektion des Neuenburger Festivals: «Der fantastische Film in der Schweiz soll gefördert und dem jungen, urbanen und vernetzten Publikum, das eher Musikfestivals besucht, schmackhaft gemacht werden.» In diesem Sinn plant der Film- und Theaterregisseur Samuel Schwarz eine Filmversion des im vergangenen Jahr in Neuenburg präsentierten Transmedia-Projekts «Polder». Er wendet sich neuerdings bewusst den Produktionen zu, die nicht auf traditionellem Weg verbreitet werden und plant Projekte, die jungen Usern gefallen. Dabei ist er sich der technologischen Herausforderungen unserer Zeit durchaus bewusst. «Der Schweizer Film konzentriert sich stark auf realistische Geschichten. Die Jungen interessieren sich aber nicht für Dramen!» «Polder» (siehe auch CB 481) erzählt die Geschichte eines riesigen Game-Konzerns, dessen Spiele die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auflösen. Nach Ansicht von Samuel Schwarz handelt es sich um einen sehr realistischen Film, der weit besser in der heutigen Zeit verankert ist als manche konventionellen Filme. Er ist optimistisch – «eine neue Ära, eine fantastische Zeit» – und pragmatisch zugleich und findet es wichtig, den Fantasy-und Science-Fiction-Film weiterzuentwickeln: «Wollen wir kommerziell denken, so müssen wir die Jungen ansprechen.» Umso mehr, als das Wissen in der Schweiz vorhanden ist.

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