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Der Ausbruch der Frauen

Kathrin Halter
03. Januar 2020

Bei den Dreharbeiten zu «Il valore della donna è il suo silenzio» (1980), im Bild links Regisseurin Gertrud Pinkus.

Gertrud Pinkus, Tula Roy und Lucienne Lanaz sind drei jener Schweizer «Film.Pionierinnen 1971-1981», die an den Solothurner Filmtagen gewürdigt werden. Ein Blick auf die Siebzigerjahre, als Filmemachen in der Schweiz noch vorwiegend Männersache war.    

Was soll man da nur sagen: Unter dem Titel «Jean Paul Sartre in Genf» berichtet eine Filmwochenschau 1946 vom Schweizer Besuch des «hervorragenden Dramatikers und Philo­sophen», der durch die Strassen der Genfer Altstadt schlendert und mit Bewohnern spricht. An seiner Seite und in fast jeder Einstellung ebenfalls gut sichtbar ist Simone de Beauvoir. Der Kommentar findet ihren Besuch jedoch nicht beachtenswert – Beauvoir wird im Beitrag nicht ein einziges Mal genannt. Es ist ein besonders krasses Beispiel für die Herabsetzung und Ungleichbehandlung einer – notabene berühmten – Frau. 

Verrückt finden das auch die Filmemacherin Lucienne Lanaz und Co-Autorin Anne Cunéo, die sich in «Ciné-journal au féminin» (1979) im Archiv der Filmwochenschau in Lausanne an einen Schneidetisch sitzen und durch Hunderte von Filmrollen arbeiten, um jene wenigen Beiträge aufzuspüren, die explizit von Frauen handeln. Der Dokumentarfilm (Co-Regie: Erich Liebi und Urs Bolliger) gruppiert die Beiträge nach Themen wie Familie, Berufe, Politik, Sport oder Kulturleben, kommentiert und stellt medienkritische Vergleiche an. 

Diese bei allem Ernst humorvoll verspielte Abrechnung läuft im Programm «Film.­Pionierinnen 1971-1981» an den Solothurner Filmtagen. Da werden Filme gezeigt, die viele vom Hörensagen kennen und doch nie gesehen haben, wie es Anita Hugi formuliert: Arbeiten von June Kovach («Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung») und Marlies Graf-Dätwyler («Behinderte Liebe»), Gertrud Pinkus und Tula Roy, Isa Hesse («Sirenen-Eiland») oder Lucienne Lanaz. Gemeinsam ist den Genannten, dass sie in vieler Hinsicht Neuland betraten. Anfang der Siebzigerjahre gab es ja noch kaum Frauen, die im Film etabliert waren, oder die überhaupt versuchten, in einem Bereich zu arbeiten, der noch fast ganz Männern vorbehalten schien. Weibliche Vorbilder wie Reni Mertens oder die Westschweizerinnen Jacqueline Veuve und Gisèle Ansorge waren rar.

Der zeitliche Rahmen des Programms wird durch zwei symbolische Eckdaten gesetzt: Im Jahr 1971 wurde in der Schweiz endlich das Frauenstimmrecht eingeführt – und damit die Möglichkeit einer Wahl von Frauen in den Natio­nal- und Ständerat. Rund zehn Jahre später, 1982, folgte dann der Gleichstellungsartikel. Inzwischen sieht es auch für Frauen im Film ein bisschen besser aus: 1970 entstanden, wie das Festival berechnet hat, lediglich zwölf Filme unter weiblicher Regie, 1980 waren es dann immerhin schon 39. 

1966 fanden zum ersten Mal die Solothurner Filmtage statt, 1970 wurde das 1963 eingeführte Filmgesetz revidiert. Dabei stehen die Siebzigerjahre, Stichwort Neuer Schweizer Film und Nouvelle Vague, vor allem für Autorenkino, Aufbruch, Überwindung verkrusteter Struktur, Innovation und frischen Wind. Wie aber nahm sich das Jahrzehnt aus Frauensicht aus? Dazu haben wir mit jenen drei Regisseurinnen gesprochen, die an den Filmtagen (online und physisch) anwesend sein werden: Gertrud Pinkus, Tula Roy und Lucienne Lanaz. 

 

 

Getrud Pinkus

Getrud Pinkus ging mit 18 Jahren von Solothurn nach Basel, wo sie am Theater assistierte, danach studierte sie ab 1964 an der Münchner Akademie der Bildenden Künste Bühnenbild und war als Regisseurin und Bühnenbildnerin an nonkonformistischen Theater-Arbeiten beteiligt. Im Theater sah sie jedoch keine Zukunft. Der Wunsch, Filme zu machen, entstand in Zürich. Dort assistierte Pinkus bei Jürg Hasslers «Krawall», dem Dokumentarfilm über die Zürcher Jugendunruhen von 1968. Pinkus: «Der Vorteil unserer Generation war, dass die Jugend in Aufruhr war und auf unsere Filme wartete. Wir wussten, welche Themen brannten, mit dem Publikum waren wir eng verbunden». Damals sei ihr aber auch klar geworden, dass hierzulande Frauen in der Filmregie kaum Chancen hatten: «Wir wurden einfach negiert, es war unvorstellbar, dass eine Frau eigene Projekte realisierte. Wir hatten keine Lobby. Auch das Filmfördersystem war damals ein reiner Männer-Club mit wenig Geld. Wir hatten vor 1971 ja nicht einmal das Stimmrecht! Und in der Filmförderung beim Bund sass die erste Frau erst 1986 in einer Kommission.»  Solidarität unter Frauen erlebte Pinkus kaum. Im Gegenteil, Frauen hätten sich zwangsläufig eher als Konkurrentinnen betrachtet, weil es so unwahrscheinlich schien, dass zwei von ihnen gleichzeitig Fördergeld erhielten. 

So zog sie 1971 nach Frankfurt, wo sie vier Jahre lang bei Proskop-Film arbeitete, einem Kollektiv, das nach einem Auftrag in der Schweiz um Pinkus warb und mit dem sie rund dreissig Dokumentarfilme für die ARD oder das ZDF realisierte. Bei Proskop-Film machten alle alles, und so erlernte Pinkus sämtliche Arbeitsbereiche von der Recherche über die Technik, an der sie immer sehr interessiert war, bis zur Abnahme. Das deutsche Fernsehen war damals sehr offen, es wurde mit neuen Formaten experimentiert. Überhaupt erlebte Pinkus Deutschland viel fortschrittlicher als die Schweiz: «Da waren Regisseurinnen wie Ula Stöckl, Helke Sander, Margarethe von Trotta und Helma Sanders-Brahms, es gab Fernseh- Redakteurinnen, es gab Journalistinnen und Theoretikerinnen, es gab die Gruppe ‹Frauen und Film› – es gab ein Bewusstsein!» 

Also wurde sie freischaffende Drehbuchautorin, Regisseurin, Kamerafrau und Co-Produzentin und pendelte weiterhin zwischen Frankfurt und Zürich, wo ihre 1968 geborene Tochter und ihr Mann Marco Pinkus lebten (der älteste Sohn der Frauenrechtlerin Amalie Pinkus und des legendären Sozialisten und Buchhändlers Theo Pinkus). 

In Frankfurt realisierte Pinkus, in Koproduktion mit dem ZDF, dem Schweizer Fernsehen und dem Filmkollektiv Zürich, auch ihren ersten Kinospielfilm: «Il valore della donna è il suo silenzio» (1980), soeben von filmo restauriert und ebenfalls im Programm der Solothurner Filmtage, ist eine Entdeckung. Die filmische Form, eine Verbindung von dokumentarischer Rahmenhandlung und von nachinszenierten Szenen, spiegelt die Entstehungsbedingung des Films und wirkt zugleich innovativ und frisch. «Il valore» zeigt mit Hilfe von Laiendarstellern, die sich selbst einbringen, den Alltag einer Süditalienerin in Frankfurt, die als isolierte Hausfrau und Mutter, ohne Deutschkenntnisse und Freiheiten, zunehmend vereinsamt. Pinkus sagt, sie habe den Film für die Ausländerinnen gedreht, auch aus dem Wunsch heraus, diese «hinter den Vorhängen» hervorzulocken, wie es im Film einmal heisst. Am Anfang der Arbeit stand der Schreck über die Entdeckung, dass eine von Pinkus' Nachbarinnen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, ohne dass sie etwas davon mitbekam. 

«Il valore» wurde im Kino- und im Parallelverleih während 10 Jahren in unzähligen Vorstellungen u.a. in Deutschland, Italien und der Schweiz vorgeführt. Auch im folgenden Jahrzehnt arbeitete Pinkus vorwiegend in Deutschland, wo sie Kinospielfilme, Fernseh-Dokumentarfilme und experimentelle Kurzspielfilme realisierte. Bekanntheit und Anerkennung erlangte sie in der Schweiz vor allem mit «Anna Göldin – Letzte Hexe» (1991). Pinkus hatte sämtliche Filme mit Hilfe der deutschen Filmförderung und mit EurImage finanziert. Als die Schweiz nach dem EWR-Nein 1992 aus den europäischen Filmförderungssystemen rausfiel, sah Pinkus keine Möglichkeit mehr, die Filme zu realisieren, die sie wollte. Sie wanderte nach Lateinamerika aus. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes Stefan Portmann, dem Mitbegründer und langjährigen Leiter der Solothurner Filmtage, kehrte sie 2005 nach Zürich zurück.  

 

 

Tula Roy

Seit zwei Jahren lebt Tula Roy in München, die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte sie jedoch in Zürich. Anfang der Siebzigerjahre, mit 37 Jahren, arbeitete sie schon seit 15 Jahren als selbstständige Architektur-, Industrie- und Reportagefotografin, als sie beschloss, einen Filmkurs an der Zürcher F+F zu absolvieren. Dort lernte sie auch Christoph Wirsing kennen, den Kameramann und langjährigen Partner, mit dem sie in fast allen ihre Filmen zusammengearbeitet hat. 

Ihr erster Langfilm entstand 1975 im Rahmen der Ausstellung «Frauen sehen Frauen», die gerade kürzlich im Museum Strauhof ein Revival erlebte. Tula Roy wollte eine Fotoserie über Prostituierte machen, was sich als schwierig erwies. Da stellte ihr Sissi Zöbeli, die Mode-Designerin (die ebenfalls in der Ausstellung mitwirkte) eine ihrer Kundinnen vor: Irene Staub, besser bekannt unter dem Namen Lady Shiva, jene Prostituierte, die sich mit extravaganter Aufmachung glamourös selbst inszenierte. «Lady Shiva oder: Die bezahlen nur meine Zeit» (1975) verzichtet allerdings darauf, das Image von Shiva filmisch zu überhöhen. Stattdessen ging es Tula Roy um etwas anderes: Während die Bildspur Szenen aus dem Alltag der Protagonistin zeigt – Warten auf Kundschaft in der Schoffelgasse, Besuche beim Coiffeur, Einkäufe mit ihrem Kind – verläuft der Ton quasi gegenläufig: In den (von Zöbeli geführten) Interviews redet Shiva wie in Selbstgesprächen spontan und frei drauflos – und enthüllt so nach und nach etwas von der Einsamkeit und Not einer ziemlich unglücklichen Frau. 

In der Kunstszene wurde der Film und mit ihr Lady Shiva bald Kult – etwas, das Tula Roy, die marxistische Feministin, wie sie sich im Gespräch einmal bezeichnet, eher mit Unbehagen erfüllte, zumal sich die Drogensucht von Staub nach dem Film verschlimmerte. Roy liess ihn für viele Jahre in der Versenkung verschwinden. Nun wird er, frisch restauriert, wieder zugänglich. 

Fast wichtiger noch war Tula Roy jener Dokumentarfilm, den sie ebenfalls 1975 mit einer Co-Regisseurin, einer Soziologin, einer Cutterin und einer Moderatorin für das Fernsehen realisierte. «Jugend und Sexualität» thematisiert Aufklärung an Schulen und porträtiert einen progressiven Pädagogen. Es sei ihr eigentlich immer um sozialkritisches oder politisches Kino gegangen, so Tula Roy, die 1993 auch eine dreiteilige Geschichte der Schweizer Frauenbewegung schuf («Eine andere Geschichte»). Als man sie nach den Arbeitsbedingungen für Filmfrauen in den Siebzigerjahren befragt, antwortet sie lapidar: «Die Film­szene war eine Männerszene, so einfach war das. Sich durchzuboxen war schwierig, man wurde etwas belächelt, bekam kein Geld.» Sie selber hatte nie Angst, sich mit Berufskollegen auseinanderzusetzen; die langjährige Erfahrung als Berufsfotografin kam ihr da zu Hilfe. Genau wie Gertrud Pinkus stellt Tula Roy fest, dass einige der damaligen Filmpionierinnen – Marlies Graf-Dätwyler etwa (die Frau von Urs Graf) oder June Kovach (die Frau von Alexander Seiler) – ihre Arbeiten oft nur im Windschatten ihrer filmenden Ehemänner realisieren konnten. Das sei immerhin «eine mögliche Kampfmethode» gewesen, so Roy lakonisch. Sie selber kannte aber auch den Zusammenhalt unter Frauen, etwa bei ihrer Gemeinschaftsarbeit für «Jugend und Sexualität» oder in Atelier­gemeinschaften, wo sich Kolleginnen gegenseitig unterstützten und austauschten. 

 

 

Lucienne Lanaz

Seit vielen Jahren lebt und arbeitet Lucienne Lanaz in einem Bauernhaus im jurassischen Grandval. Lanaz ist in Zürich aufgewachsen und pendelte berufsbedingt viele Jahre zwischen Zürich, Bern und dem Jura. Die Dokumentarfilmerin hat fast alle ihre Filme, wie auch das eingangs zitierte «Ciné-journal au féminin», selber produziert. Wobei man nicht vergessen darf, dass das heutige Produzentensystem in den Siebzigerjahren noch fast unbekannt war; die meisten Autorenfilmer produzierten damals selbst. Über das Jahrzehnt urteilt Lanaz ebenso kritisch wie ihre Kolleginnen. Auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen: Frauen seien damals einfach nicht beachtet worden, «les femmes, elles n'existent pas». In ihrem Haus in Grandval wurde 1975 der Verein «CH-Filmfrauen» gegründet, der bis Ende der Achtzigerjahre lose existierte, quasi als Vorgänger-Organisation von SWAN. Lanaz lacht: Sie seien eben ein paar Hexen gewesen, Isa Hesse, Greti Kläy, Isolde Marxer, Tula Roy und all die anderen, sie hatten es auch gut und lustig miteinander. Man bestärkte sich gegenseitig, eine verschwörerische Gruppe, die sich im Sommer in Locarno manchmal bei Isa Hesse traf. Lucienne Lanaz hat insgesamt über 30 Kurz- und Langfilme gedreht, meist Dokumentarfilme. Ihr neuster Film «Gianerica», ein Porträt des Künstlerpaars Erica und Gian Pedretti, läuft an den Solothurner Filmtagen.

 

▶  Originaltext: Deutsch

 

Debatten und eine Ausstellung

Beim Panel «Stimmrecht – Filmrecht?»  der Solothurner Filmtage werden u.a. folgende Fragen diskuktiert: Wie wurde man in den 1970er Jahren Filmemacherin? Unter welchen Bedingungen, in welchen Strukturen und mit welchen Mitteln waren die Film-­Pionierinnen kreativ tätig? 

Mit den Filmemacherinnen Gertrud ­Pinkus, Tula Roy, Lucienne Lanaz u.a. 

Moderation: Denise Tonella,  desig. ­Direktorin Landesmuseum,   Anita Hugi, Direktorin Solothurner Filmtage .

Sonntag, 24. Januar 2021, 15.00 Uhr. Livestream auf solothurnerfilmtage.ch

Deutsch mit Simultanübersetzung ins Französische. 

 

Am 4. März eröffnet im Landesmuseum in Zürich die Ausstellung «Frauen.Rechte»

Im Rahmen eines Fokustages der Solothurner Filmtage im Landesmuseum findet im Juni ein weiteres Panel statt, welches an die Diskussion in Solothurn anknüpft. 

www. landesmuseum.ch

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