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Ein reiner Filmemacher

Kathrin Halter
02. Januar 2020

Villi Hermann, Filmemacher und Produzent. © Sabine Cattaneo

Die Gesichter sind müde, ihr Ausdruck ist resigniert, lapidar erzählen die italienischen Grenzgänger von der schweren Arbeit in Tessiner Fabriken: Meist schon um fünf Uhr stehen sie auf, in Baracken oder armseligen Wohnungen fern der Familie, nach der langen Fahrt über die Grenze und dem Warten im Stau beginnt die Arbeit, und vor acht oder neun Uhr abends ist kaum jemand daheim. Ausser Essen und Schlafen bleibt da eigentlich nichts mehr. «Cerchiamo per subito operai, offriamo….» heisst der erste lange Dokumentarfilm von Villi Hermann von 1974. Produziert wurde er in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Filmkollektiv, dessen Mitglied Hermann war. Passend zum gemeinschaftlichen Geist der Gruppe heisst es im Vorspann programmatisch bescheiden «Realizzato da un gruppo di operai, amici e compagni e da Villi Hermann». 

Die Ausgebeuteten und Ignorierten, Arbeiter und Tunnelbauer sind es, die in vielen ­Filmen von Villi Hermann eine Stimme und ein Gesicht erhalten. Was man hört, ist oft haarsträubend. Es sind historisch präzis fundierte Geschichten über Demütigung und Entrechtung, über Zustände, die uns heute manchmal vorkommen wie aus einem anderen Land. Hermanns Filme sind allerdings mehr als sorgfältig recherchierte und verortete Dokumentationen. Die filmische Forma war ihm, wie er im Gespräch betont, immer sehr wichtig. Hermann: «Nach der Recherche muss man alles, was man weiss, wieder vergessen und eine Filmsprache finden. Diese ging damals und geht auch heute noch oft vergessen.» 

 

London-Zürich-Beride

Aufgewachsen ist der bald 80-jährige Villi Hermann (*1941) in Luzern, wo er an der Kunstgewerbeschule studierte. Damals zogen seine Eltern wieder ins Tessin, nach Beride im Malcantone. Sein Vater war sein Leben lang Hilfsarbeiter, erzählt Hermann, seine Mutter begann schon als 14-Jährige in der Textilindustrie zu arbeiten, in der Viscose in Emmen; später wurde sie Hausfrau. Er sei einer der wenigen Filmemacher ohne Matura, so Hermann, dabei ist ihm seine Bildung gut anzuhören. Nach der Kunstgewerbeschule studierte er in Krefeld und in Paris weiter; bis heute skizziert er viel. Das Statische und die Begrenzung der Leinwand empfand er jedoch bald als beengend, und so zog er, mit einem Fotobuch, seinen Skizzzen und einem Stipendium des Kantons Tessin ausgerüstet, für drei Jahre nach London und absolvierte die London Film School. Dort war er viel im British Film Institute, lernte die englischen Dokumentarfilmschulen kennen. Danach zog er nach Zürich und realisierte im Umfeld des Filmkollektivs seine ersten Filme.

Bekannt wurde Villi Hermann mit «San Gottardo» (1977), der während des Strassentunnel-Baus gedreht wurde und diesen mit der Entstehung des ersten Eisenbahn-Tunnels (1872-1882) parallel setzt. Dabei verbindet «San Gottardo» dokumentarisch beeindruckende Aufnahmen von Tunnelarbeiten mit inszenierten, historisierenden Szenen – und liefert erneut eine Hommage an die Gastarbeiter. Der formal ungewöhnliche Film lief in Cannes, aber auch in Locarno und an weiteren Festivals. 

Für die Siebzigerjahre typischer wirkt jener Dokumentarfilm, den Hermann gemeinsam mit Niklaus Meienberg und Hans Stürm realisierte: «Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)» (1980) zeichnet einerseits ein Porträt des verhinderten Hitler-Attentäters Maurice Bavaud, wobei der Bavaud-Darsteller Roger Jendly immer wieder als Schauspieler auftritt und sich in der Auseinandersetzung mit seiner Figur auch mit Bauvauds Geschwistern unterhält. Andererseits begegnen den Filmautoren auf ihrer Recherche-Reise durch Deutschland auch Bavaud-Zeitgenossen wie ältere Marktbesucher, die Erschreckendes (auch erschreckend Komisches) aus der Kriegszeit erzählen. Der Film trifft einen, trotz seiner Länge, heute noch mit Wucht. Ein Zeitdokument, das – zum damaligen Ärger nicht nur des Fernsehens – mit einer polemischen Volte endet, in dem eine Wehrschau in der DDR mit Aufnahmen von Polizei und empörten Bürgern während den Zürcher Achtzigerunruhen parallelisiert wird. 

 

«Padrino» und Produzent

Villi Hermanns nächster Film «Matlosa» (1981) führte dann wieder ins Tessin, seinen Heimatkanton, wo der Regisseur seit den Siebzigerjahren im Elternhaus in Beride lebt. Mit dezenter Zeitkritik zeichnet der Spielfilm die Entfremdung eines Familienvaters nach, der sich zwischen Büroarbeit (in Lugano) und Heimweh nach den Orten und Figuren seiner Kindheit abhandenkommt. Oder zu sich findet? Mit «Bankomatt» (1989), der schweizerisch-italienischen Koproduktion mit Bruno Ganz in der Hauptrolle, folgte dann der vorerst letzte Spielfilm. 

Er habe nie Auftragsfilme gemacht und ausschliesslich Figuren porträtiert, die ihm vertraut sind und die ihn inspirierten, betont Hermann. Das trifft auch auf jene Porträt-Reihe von Künstlern mit Tessiner Wurzeln zu wie Mario Botta, Alberto Nessi oder Giovanni Orelli, den Schriftsteller, mit dem Hermann in gleich drei Filmen zusammengearbeitet hat. 

1981 gründet Hermann, der alle seine Filme immer selber produzierte, Imagofilm Lugano. Seither ist er in einer weiteren Rolle präsent: als Förderer und als «padrino» einer Generation junger Filmschaffender aus dem Tessin. Niccolò Castelli, mit dem Hermann «Tutti Giù» sowie «Atlas», den Eröffnungsfilm dieser Solothurner Filmtage produziert hat, sagt über ihn: «Für mich ist Villi ein reiner Filmemacher, er macht keine Kompromisse. Als Produzent, der mich im kreativen Prozess begleitet, ist er ein ehrlicher, auch harter Gesprächspartner. Die Konfrontation mit ihm hat mich reifer werden lassen. Nach so vielen Jahren bringe ich ihm eine besondere Zuneigung entgegen». 

Villi Hermann hat sich immer wieder sehr darüber geärgert, was er als eine Gering­schätzung der Tessiner Filmszene erlebt. Dass ihn die Solothurner Filmtage jetzt mit einer «Rencontre» ehren, freut ihn sehr. Die Auszeichnung begreift er nicht nur persönlich: «Endlich merkt man, dass auch wir hier eine Filmkultur haben!» 

 

▶  Originaltext: Deutsch

 

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