MENU Schliessen

Der Standpunkt von Laura Houlgatte

Pascaline Sordet
09. November 2020

Laura Houlgatte (© zvg)

Kinos schliessen in ganz Europa wieder. Dennoch gelten Kinosäle als ziemlich sichere Orte. Was denken Sie?

Zum Glück wurden in den Kinos im Gegensatz zu Restaurants und Bars keine Corona-Clusters vermerkt. Was unser Argument stützt, dass es sich um Räume handelt, die kontrolliert werden können, indem man die Eintritte begrenzt, die Sitze voneinander trennt, die Ein- und Ausgänge der Besucher vor und nach der Vorführung staffelt und die Kinoeintritte im Voraus verkauft. Wir sind der Meinung, dass die Kinos offen bleiben sollten.

 

Hat diese Botschaft das Publikum erreicht?

Die Leute hatten keine Angst, wieder ins Kino zu gehen: Umfragen zeigen, dass das Publikum zufrieden ist, dass es aber vor allem die neuen Filme sehen will.

 

Hatten Sie diesbezüglich Kontakt mit den Verleihern und Studios?

Wir sind immer im Gespräch geblieben, das ist gut. Die Verleiher setzen sich dafür ein, Filme ins Kino zu bringen. In Ländern mit einer starken inländischen Produktion, wie Frankreich oder Polen, kommen die Filme heraus, und die Menschen sehen sie. Die amerikanischen Studios, die einen Day-and-Date-Ansatz verfolgen [ein gleichzeitiger Filmstart auf allen Plattformen weltweit, AdR.], betrachten die Sache aus einem amerikanischen Blickwinkel: Solange die Kinos in New York und Kalifornien geschlossen sind, besteht kein Interesse, die Filme in Europa herauszubringen. Wir hatten zwar «Tenet» von Christopher Nolan, doch ein einziger Film genügt nicht, um ein Publikum aufzubauen. Wenn wir darauf warten, dass die ganze Welt zu 100 Prozent offen ist, geschieht gar nichts.

 

Das Beispiel von Frankreich und Polen zeigt doch, dass ein Teil Europas zu stark vom amerikanischen Angebot abhängt?

Das ist bedauerlich, aber so ist die Realität. Die Blockbuster haben eine enorme Anziehungskraft und locken unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in die Kinos, von dieser Impulswirkung profitieren andere, kleinere Filme. Wird die jetzige Krise die Haltung und die Programme verändern? Es ist noch zu früh, um eine Antwort geben zu können.

 

Haben Sie von definitiven Schliessungen gehört?

Soweit ich weiss, sind es erst sehr wenige.

 

Befürchten Sie einen Trend in diese Richtung?

Auch hier ist eine Antwort schwierig. Werden bestimmte Kinos, die bereits geschwächt sind, den Preis für diese Unsicherheit bezahlen? Das ist nicht auszuschliessen. Wir möchten die Diversität in den europäischen Sälen bewahren – und deshalb suchen wir finanzielle Unterstützung. Wir sind auf grosse und kleine Filmbetreiber, auf Arthaus-Kinos, auf Unabhängige angewiesen. Im Moment ist niemand geschützt, sogar die Grossen nicht. Manche, beispielsweise Cineworld [der zweitgrösste Auswerter weltweit, AdR.], haben sich angesichts fehlender neuer Filme entschieden, ihre Kinos in Grossbritannien zu schliessen. Sie planen keine Wiedereröffnung, bis der Zeitplan für die Filmstarts bekannt ist.

 

Fühlen Sie sich von der Industrie unterstützt?

Unser Argument gegenüber den Verleihern und Studios ist, dass eine Kinoauswertung wirtschaftlich Sinn macht. Hier generieren wir Geld. Streaming ist gut und recht, aber was die Einnahmen und die Sichtbarkeit des Films betrifft, so ist klar: Das Kino ist und bleibt überlebenswichtig für die gesamte Filmindustrie..

 

Glauben Sie, dass das Publikum seine Gewohnheiten ändern und dies die Kinos gefährden könnte, wenn die Krise anhält?

Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob dies langfristig einen Einfluss auf die Zuschauerinnen und Zuschauer haben wird. Die Tatsache, dass das Publikum wieder ins Kino kam, sobald dies möglich war, ist ein gutes Omen. Wir sagen unseren Partnern immer, dass sie in einer Krise oder unter aussergewöhnlichen Umständen keinesfalls Änderungen am Geschäftsmodell vornehmen sollten. Der Animationsfilm «Trolls 2» lief sehr gut, als er online veröffentlicht wurde, allerdings kam er ohne jede Konkurrenz heraus, als die Leute im Lockdown und alle Kinder zu Hause waren: Die Umstände sind so speziell, dass man keine Schlüsse ziehen kann.

 

Gibt es Hilfe auf europäischer Ebene?

Staatliche Beihilfen für Unternehmen sind in normalen Zeiten strikt reguliert, doch im Moment haben die Regierungen einen weiten Handlungsspielraum. Das Budget 2021-2028 der Union legt einen ambitiösen Vorschlag für ein Konjunkturpaket vor. Jetzt müssen sich das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union über den Betrag und die definitiven Zuweisungen einigen. Im Moment kennen wir die Beträge nicht, die für die Kulturwirtschaft vorgesehen sind.

 

Haben sich in den verschiedenen Ländern besonders wirksame Systeme abgezeichnet?

Alle Länder haben Unterstützungsmassnahmen ergriffen, wobei gewisse Länder für den Kulturbereich und insbesondere für die Kinos noch zusätzliche Beihilfen gewährt haben. Keine Regierung hat den idealen Weg gefunden, nur eine Kombination von Beschäftigungsförderung, Beihilfen für Fixkosten und eine Unterstützung für die Wiedereröffnung.

 

Wie arbeiten Sie, jetzt da Ungewissheit über die Dauer dieser Situation herrscht?

Es ist sehr kompliziert, wenn man keine Pläne machen kann. Die nationalen Verbände setzten sich stark dafür ein, dass die Massnahmen nicht von heute auf morgen umgesetzt werden, sondern die Unternehmen Zeit haben, Lösungen zu finden. Die Kinos am Leben zu erhalten ist nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit – sie zahlen Steuern, schaffen Arbeitsplätze und halten ihrerseits die umliegenden Bars und Restaurants am Leben – sondern es ist auch kulturell und sozial relevant. Es gibt Städte und Länder, in denen der Kinosaal der einzige kulturelle Ort ist, der nach 20 Uhr noch geöffnet ist.

 

Sind Ihnen besonders interessante Lösungen zur Kompensierung des Publikumsschwunds in den Kinos begegnet?

Ja, viele! Jede Woche veröffentlichen wir ein Update, das mehr als 600 Initiativen auflistet, die während des Lockdown oder bei der Wiedereröffnung der Kinos umgesetzt wurden. Es gab Partnerschaften zwischen lokalen Streaming-Plattformen und Kinos, den Verkauf von Vouchern, alternative Angebote, Wettbewerbe. In der jetzigen Zeit, die für die Kinos die grösste Herausforderung seit ihrer Gründung darstellt, ist mir besonders aufgefallen, mit wie viel Kreativität und Energie die Kinobetreiber versuchen, die Verbindung mit der Gemeinschaft, dem Publikum und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufrechtzuerhalten. Da steckt wirklich Leidenschaft dahinter.

 

▶  Originaltext: Französisch

 

Zur Person

Laura Houlgatte kam im März 2015 als Beauftragte für europäische Angelegenheiten zur International Union of Cinemas (UNIC) und wurde im August 2017 zur Direktorin ernannt. Als Absolventin des Instituts für Politikwissenschaften in Strassburg arbeitete sie für die NGO Les Casques Rouges in Paris und für die französische Botschaft in Dublin, bevor sie 2011 nach Brüssel kam. Dort war sie für das British Council und für den Europäischen Verlegerverband tätig. Houlgatte führt 2020 die Liste der Celluloid Junkie «Top 50 Women in Global Cinema» an und wurde 2018 in der Publikation Politico «Women who Shape Brussels» aufgeführt.

UNIC ist ein Lobbying-Büro, das die Interessen der Kinobetreiber gegenüber der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten vertritt. Es repräsentiert die wichtigsten Berufsverbände und die Kinobetreiber in 38 europäischen Staaten. 2017 wirkte UNIC bei der Gründung der Global Cinema Federation mit, der internationalen Dachorganisation der Kinobetreiber.

 

Fordernde Hingabe

Anne-Claire Adet
09 November 2020

Mit tausend Titeln fängt es an

Pascaline Sordet
21 September 2020

«Wir betreten hier Neuland»

Pascaline Sordet
21 September 2020

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife