MENU Schliessen

Die GoPro der Dreissigerjahre


03. Januar 2018

Viele Autorenfilmer sind mit der Bolex-Kamera aufgewachsen und haben so technisches Knowhow aus der Schweiz in die ganze Welt exportiert. Aus der Kulturgeschichte einer Kamera.

Von Pascaline Sordet

Von Stanley Kubrick bis Spike Lee, von Jonas Mekas bis Andy Warhol, vom Kassenschlager bis zum Experimentalfilm: Die Bolex ist überall. Vor allem unter den jungen Filmemachern. Marc Ueter, der Geschäftsleiter von Bolex International, bestätigt, dass ein grosser Teil seiner Kundschaft zwischen 18 und 30 Jahre alt ist: «Wir führen zwar keine genaue Statistik, haben diesen Trend jedoch festgestellt. Die Bolex-Benutzer der Siebzigerjahre sind heute im Ruhestand, während Filmstudenten Bolex-Kameras häufig verwenden, weil diese sehr robust sind und auch intensivstem Gebrauch standhalten. Viele verlieben sich in diese Kamera, wie seinerzeit Steven Spielberg.»

Die Bolex wurde in den Dreissigerjahren von einem ukrainischen Einwanderer entwickelt und von Paillard in Sainte-Croix und Yverdon produziert. Heute hat sie einen fast schon legendären Ruf erlangt. Dieses «Schweizermesser des Films» ist ein Wunderwerk der Technik: klein, leicht und gleichzeitig präzise, robust und widerstandsfähig. Was macht die Bolex so attraktiv? Sind es das Korn, die besonderen Farben des Filmmaterials? Oder eine von Marketingstrategen clever genutzte Nostalgiewelle, welche die Lolcat-Generation dazu bringt, Geräte aus der Vergangenheit zu benützen? «Ich denke nicht, dass es sich um eine Modeerscheinung handelt», kommentiert Marc Ueter, «ganz im Gegenteil, die jungen Leute, die vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren im Zeitalter des Internets geboren wurden, verstehen, wie wertvoll es ist, diese Technologie zu beherrschen.»

Lucien Monot ist einer dieser Studenten: «Ich habe die Bolex bei meinem ersten Workshop an der HEAD entdeckt. Wir mussten mit Aufnahmen von nur sechs Minuten eine Geschichte erzählen, auf zwei Filmrollen, von denen eine ins Labor geschickt und eine von uns selbst entwickelt wurde.» Er habe auf diese Weise den Wert von Bildern entdeckt, bei der Suche nach der Einstellung und einer Handschrift reflektieren gelernt. Marie de Maricourt, die an den Solothurner Filmtagen einen mit einer Bolex gedrehten Kurzfilm präsentiert, verbindet diese Kamera mit ihren Anfängen als Filmemacherin, als sie alleine drehte. Für sie ist der Umgang mit dem Filmmaterialeine «wesentliche Erfahrung, um ein digitales Videosignal zu verstehen.»
 

Industrielle Meisterleistung

Die Bolex ist heute eine Schulkamera, die an den Hochschulen der ganzen Welt verwendet wird – aber nicht nur. Der Hersteller hat dazu einige Anekdoten auf Lager: «Auch Journalisten in Kriegsgebieten, wo es oft keinen Strom gibt, setzen auf die Bolex. CNN und die BBC verwenden sie heute noch für besondere Reportagen, und ab und zu erhalten wir sogar Kameras, die im Irak-Krieg waren. Unser Verkäufer in Tokio sagt uns, dass die japanische Raumfahrtbehörde in ihrer Weltraumstation Bolex-Kameras verwendet, denn sie halten als einzige den Vibrationen einer startenden Rakete stand. Eine Antarktis-Expedition schrieb uns, sie hätten Kameras verschiedener Marken dabei gehabt, doch die mechanische Bolex sei die einzige gewesen, die auch bei siebzig Grad unter Null noch filmte.»

Die Bolex-Kamera steht in der Waadtländer Tradition der Uhrmacherei und der Musikautomaten und wird in den Zwanzigerjahren in sehr geringen Stückzahlen produziert. Nach der Wirtschaftskrise, die ihr hart zusetzt, wird die Firma von Paillard – Herstellerin von Plattenspielern, Radios und der Hermes-Schreibmaschinen – aufgekauft und wird so in grösseren Stückzahlen verfügbar. Da Erfinder zuweilen genauso faszinierend sind wie ihre Erfindung, zeigen die Solothurner Filmtage eine Premiere des Dokumentarfilms «L’aventure Bolex» von Alyssa Bolsey. Nach dem Tod ihres Grossvaters entdeckt die damalige Filmstudentin Archivschachteln mit Materialien, die ihr Grossvater von seinem Vater aufbewahrt hat. Darin findet sich nicht nur die Familiengeschichte, sondern auch das Tagebuch des Konstrukteurs. Das Leben des Erfinders mit den drei Namen – Jacques Bogopolsky, in der Schweiz in Boolsky und später in den USA in Bolsey umbenannt – zieht sich durch das ganze Jahrhundert, mit seinen Höhepunkten und Enttäuschungen. Trotz Kriegen, Wirtschaftskrisen und Exil entwirft Bolsey stets neue Geräte und filmt wie ein Besessener. Die Cinémathèque suisse hat sechs Kurzfilme digitalisiert, die von der Vielfalt seiner Amateur-Praxis zeugen und auch an den Filmtagen vorgeführt werden.

Die Geschichte der Kamera löst sich schliesslich von ihrem Erbauer. 1969 kauft der österreichische Fabrikant Eumig die Patente von Bolex auf, die Produktion verlässt die Schweiz. Doch die Firma geht 1981 in Konkurs, und Bolex International kehrt nach Yverdon zurück, wo sie heute noch ist. Rund zwanzig Kameras werden nun pro Jahr hergestellt; es ist keine Fabrik mehr, sondern ein Handwerksbetrieb, der Präzisionsarbeit leistet. «Es ist ein Nischenmarkt, aber wir sind immer noch da», sagt Marc Ueter. «Wenn Sie eine Bolex wollen, können wir sie Ihnen in zehn Tagen liefern.» Und der letzte ausgebildete Techniker repariert und inspiziert weiterhin alte Modelle, die nach Jahrzehnten immer noch funktionieren.
 

Geräuschvoll, sinnlich...

Eine weitere Besonderheit der Bolex besteht darin, dass sie keinen Ton aufnimmt und ihre Nutzer so dazu zwingt, sich in Bezug auf die Vertonung etwas einfallen zu lassen. Marie de Maricourt betont dies und zieht eine Paral­lele zu einem anderen Projekt: «Im Jahr des Bolex-Workshops habe ich auch einen Film mit einer GoPro gedreht. Es ging um ein Einkaufszentrum, und da wir ohne Erlaubnis filmten, haben wir den Ton aysnchron aufgenommen.» Der Vergleich ist nicht abwegig. Obwohl ganz verschieden, verkaufen sich beide Geräte mit dem Versprechen, alles aus Körpernähe zu filmen, jederzeit und überall auf der Welt. Braucht es einen Beweis dazu? Der erfolgreichste Film, der je mit einer Bolex gedreht wurde, ist «Endless Summer» – ein Surf-Film.

Bild und Ton separat aufnehmen, sich ein striktes Drehverhältnis (zwischen gefilmtem und verwendbarem Material) auferlegen, jede Einstellung genau überdenken, fast wie beim Schnitt-in-der-Kamera – all dies ist auch mit einer Digitalkamera möglich. Weshalb, wenn nicht aus purem Fetischismus, sollte man sich also die Mühe machen, auf Film zu drehen? Lucien Monot zeigt sich selbstsicher: «Ich wurde oft gefragt, wieso ich mich für die Bolex entschieden habe. Einerseits verstehe ich das, doch andererseits wird diese Frage meiner Meinung nach überbewertet, sodass man gar nicht mehr vom Film spricht. Manche Leute verwenden die Bolex sicher wegen ihres Retro-Looks, doch ich denke nicht, dass ich zu diesen zähle.» Mit einem leichten Schmunzeln fügt er an, die Bolex sei zwar kein Werkzeug wie jedes andere, müsse aber dennoch nicht in den Heiligenstatus erhoben werden: «Eine Aufnahme ist ein Aufnahme, und wenn sie misslungen ist, so ist sie misslungen.»

Den Jungfilmer interessiert vor allem die besondere Beziehung zum Protagonisten, die durch dieses Arbeitsgerät entsteht: «Die Bolex schafft eine feierliche Atmosphäre. Sie macht Geräusche, sie vibriert in den Händen, ein sehr sinnliches Erlebnis. Ich liebe es, mit ihr zu filmen, denn sie schafft eine Beziehung zwischen mir und der gefilmten Person. Diese weiss, dass sie gefilmt wird und setzt sich somit in Szene. Die Kamera ist immer sehr präsent;  der Protagonist kann also nie aus seiner Rolle fallen. Für meinen Diplomfilm habe ich meinen Vater gefilmt, und das Geräusch störte ihn, denn er war nicht besonders begeistert davon, gefilmt zu werden. Zuerst versuchte ich, das Kamerageräusch zu verdecken, doch nun mache ich es mir zunutze.»
 

… und politisch

Eine Filmemacherin hat Lucien Monot für seine Porträtarbeit auf 16mm-Film massgeblich inspiriert: Marie Losier. Die Französin, die derzeit an der HEAD für die Ausbildung im ersten Studien­jahr verantwortlich ist, filmte für ihren Dokumentarfilm «The Ballad of Genesis and Lady Jaye» mit ihrer Bolex viele Künstler und Musiker wie Jonas Mekas, Peaches, Alan Vega oder Genesis Breyer P-Orridge. Ihre Arbeit macht sie zur direkten Erbin einer langen experimentellen und feministischen Tradition.

Die Bolex wurde gerne vom Avantgarde-Kino verwendet, vor allem von den Frauen dieser Bewegung. Die Kamera ist so leicht, dass man mit ihr problemlos alleine filmen kann, und schafft so eine intime Beziehung zwischen Filmendem und Gefilmtem. Maya Deren kaufte sich 1943 mit dem Erbe ihres verstorbenen Vaters eine gebrauchte Bolex, um ihren ersten Film zu drehen; «Meshes of the Afternoon» wurde zu einem Klassiker des amerikanischen Experimentalfilms. Als ihn Barbara Hammer, Feministin und wichtige Figur des Queer-Cinemas, entdeckte, wusste sie, dass Visionen der Frauen ihren Platz auf der grossen Leinwand finden. Diese Kamera bot den Filmemacherinnen eine Autonomie, die sie für eine anspruchsvolle, politische Arbeit zu Themen nutzten, die von  männlichen Kollegen kaum aufgegriffen wurden.

Das Programm «Bolex und weibliche Experimente» der Solothurner Filmtage zeigt die Arbeit dieser einzigartigen Künstlerinnen und schliesst auch Marie de Maricourts «Mort aux hypocrites» ein, als eine Art Brücke zwischen den Sechzigerjahren und heute. «Wieso nicht», meint die junge Frau, nicht ganz überzeugt. «Auch wenn ich heute Spielfilme mache, so filme ich doch starke weibliche Figuren, Genderfragen liegen mir am Herzen.» Thematisch noch besser in dieses Programm gepasst hätte ihr Kurzfilm «Je fais où tu me dis» über die Sexualität einer jungen behinderten Frau – ausser dass er nicht mit einer Bolex gefilmt wurde. Zu entdecken gibt es zudem den Kurzfilm «Bouquets» von Rose Lowder, deren Stop-Motion-Arbeit eine weitere Funktion der wahrlich vielseitigen Bolex nutzt.

  Originaltext: Französisch

Bild: «Nartelle jeux de plage» (1933) von Jacques Boolsky.

 

«Bolex: eine Schweizer Kamera von ­Weltformat» an den Solothurner Filmtagen: 

Die Programmsektion umfasst u.a. drei Langfilme und drei Kurzfilmprogramme.
Am Sonntag, 28. Januar, 15:00 läuft im Kino Palace «Beyond the Bolex» von Alyssa Bolsey, gefolgt von einem Gespräch.
«Die Bolex-Kamera. Neue Horizonte für Cineasten und Amateurfilmer»: Ausstellung im Künstlerhaus S11 in Solothurn (25. 1. – 11. 2. 2018). Vernissage: Freitag, 25. Januar, 19:00

 

 

 

 

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife