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Artikel

Der Standpunkt von Bero Beyer

La rédaction
25. Juli 2016

Die Fragen der Redaktion wurden schriftlich beantwortet. Der englische Originaltext folgt nach der deutschen Übersetzung. 

 

Was sind Ihre Erfahrungen mit Schweizer Filmen als Produzent und als Festivalleiter?
Als Produzent hatte ich zwei Produktionen mit Schweiz-Bezug. Meine Firma war eine von acht (ja acht!) Koproduzentinnen des palästinensischen Films «Salz der Erde» von Annemarie Jacir. Und Anup Singh, Regisseur der indischen Produktion «Qissa, the ghost is a lonely traveller», lebt in Genf. Beim IFFR haben wir dieses Jahr die Schweizer Produktion «Iraqi Odyssey» des im Irak geborenen Schweizers Samir für unser Sommerprogramm IFFR White Nights programmiert. 

Müssen wir vom «Schweizer Film» oder vom «niederländischen Kino» reden? Machen solche Nationalabgrenzungen überhaupt Sinn? 
Ich vertrat immer schon die Auffassung, einem Film seine eigentliche Natio­nalität zuzuschreiben, die in aller Regel – aber nicht immer – der Nationalität des Regisseurs entspricht. Das unterscheidet sich von der üblichen Kategorisierung auf Grund der Finanzquellen oder nach dem Domizil des ausführenden Produzenten. Um ein Beispiel zu nennen: «Paradise Now» ist von einer holländischen Firma produziert worden, mit deutschem, französischem und israelischem Geld und mit einem in den Niederlanden lebenden Regisseur (dem gebürtigen Palästinenser Hany Abu-Assad). 
Wir stellten ihn aber als palästinensischen Film vor und gaben ihn so auch für den Oscar und den Golden Globe ein. Er wäre ohne die verwirrliche Finanzierungskonstruktion nicht entstanden, und ich meine, er wäre anders auch nicht so stark herausgekommen, wie er jetzt ist – für die Presse jedoch und für das Publikum ist sein palästinensischer Charakter viel bedeutsamer.

Was sagen Sie zu folgender Behauptung: «Die Schweizer sind stark im Dokumentarfilm, ihre Spielfilme hingegen überzeugen oft weniger». 
Ich kann nicht behaupten, ich hätte genug Schweizer Dokumentar- und Spielfilme gesehen, um das beurteilen zu können. Merkwürdigerweise hört man aber oft das Gleiche über die niederländische Film­industrie, die sich ebenfalls einer starken dokumentarischen Tradition rühmt. Der Satz kann ja zweierlei bedeuten. Entweder: Die Schweizer haben ein ausgeprägtes Talent fürs Beobachten und Recherchieren, was sie naturgemäss zum Dokumentarischen führt und weniger zum spektakuläreren Unterfangen, sich aufwendigen und international wahrgenommenen Spielfilmen zu widmen. Oder aber: Der relative Erfolg und die Wertschätzung der Dokumentarfilme verdeckt, dass die Spielfilmarbeit einfach nicht gut genug ist.

Verstehen Sie die Minderwertigkeitsgefühle respektive das Gefühl des Ungenügens, das viele gegenüber dem Film schaffen im eigenen Land empfinden? 
Durchaus. Das gibt es in allen Ländern und Regionen. Die Leute vergessen leicht, dass wir normalerweise aus der internationalen Produktion nur das Beste zu sehen bekommen, während uns aus dem eigenen Land alles aufgetischt wird, also auch dürftigstes Mittelmass. Glauben Sie mir: Unterdurchschnittliche und mediokre Filme entstehen überall. Wirklich grosses Kino ist weltweit eine Rarität.

Entdecken sie handkehrum Aufbruchsgeist bei der jungen Generation? Wo zeigt ­er sich? 
Natürlich gibt es einen neuen Geist. Den gibt es immer, anders würde das Kino absterben. Der interessanteste Aspekt ist, dass Erneue­rung allermeist aus einer unerwarteten Ecke kommt. Wir möchten voraussagen können, wo das wirklich Neue herkommt, das ist aber ein Widerspruch in sich selbst. Die einzige Konstante (ausser dem kon­stanten Wechsel) ist das menschliche Bedürfnis nach visuellem Erzählen – und dies wenn möglich als Gemeinschaftserlebnis, vor grossem Publikum.

Zwar sind viele Schweizer Filme an Festivals zu finden – in den Wettbewerben der wichtigeren A-Festivals haben Sie jedoch einen schweren Stand. Woran liegt das?
1. Vielleicht sind sie nicht gut genug. 2. Vielleicht werden sie zu wenig gut oder im falschen Umfeld präsentiert. 3. Vielleicht sind sie nicht gut genug. (Das gilt übrigens wohl für die meisten Filme und Filmnationen, auch für die holländischen).

Der Marktanteil der Schweizer Filme in den einheimischen Kinos war 2015 nicht höher als 5,52 Prozent. Was meinen Sie dazu?
Ja, das ist gar nicht gut. Die Niederlande haben schon seit mehreren Jahren einen Marktanteil von fast 20 Prozent eigener Filme, doch vor einigen Jahrzehnten lag deren Anteil genauso beunruhigend tief. Es braucht eine gewisse Mischung des Angebots – vom rigiden Autorenkino bis zur Massenunterhaltung. Die Vielfalt der (Film-)Kultur spielt eine höchst wichtige Rolle in jeder Gesellschaft. Daher sind zum Beispiel Filmfestivals so wichtig, zumal wenn sie den Horizont erweitern dafür, was Kino sein kann. Das ist die Aufgabe des IFFR, und ich meine, dass Locarno vom gleichen Geist infiziert ist. Der Entwicklungsspielraum für die Schweizer Filmbranche, Filmemacherinnen und Jungtalente steht und fällt mit dem Ansehen ihrer Arbeiten an den Festivals – und unterm Jahr an den heimischen Kinokassen. 

Mehr und mehr Filme entstehen, auch in der Schweiz. Welche Strategie em­­p­fehlen Sie Filmschaffenden, um nicht unterzugehen? 
Es war noch nie so einfach, einen Film zu machen. Theoretisch kann heutzutag jede und jeder mit seinem Handy einen Film drehen, ihn schneiden und verbreiten. Dagegen war es noch nie so schwierig, wahrgenommen zu werden. Das Klischee, man müsse eben Glück haben, ist wahrscheinlich wahr. Doch im Endeffekt gibt es nur einen Weg, um Eindruck zu machen: Sei direkt und offen, realistisch und ambitioniert. Verwechsle Professionalismus und Marktbewusstsein nicht mit künstlerischem Kompromiss. Bediene nie ein bestimmtes Publikum oder versuche ihm zu gefallen, doch sei dir sehr bewusst, zu wem du sprechen willst. Auch ein Einzelner kann ein vollwertiges Publikum sein (erwarte nur nicht, dafür eine Finanzierung zu finden). Für Mittelmässigkeit gibt es kein Pardon. Mein einziger praktischer Rat an den Nachwuchs ist: Filme anzuschauen. Sich umzusehen, was für Filme gemacht werden, wie sie gemacht, warum sie gemacht worden sind. 

Was raten Sie jungen Filmemacher­innen und Produzenten, die ihre Filme nicht in die Kinos bringen können?
Beim IFFR haben wir ein Projekt entwickelt: Wir nennen es «IFFR Unleashed» (IFFR entfesselt). Wir helfen damit ausgewählten Filmen des Festivals, über führende VoD-Plattformen Zuschauer auf der ganzen Welt zu finden. Es ist eine Langzeitaufgabe: eine Orientierungshilfe zu bieten in der oft mühsamen, bisweilen ärgerlichen Welt des On‑demand. Wir möchten das ergänzen mit anderen Verleihinitiativen und mit der Programmierung von Events. Wir vom IFFR sind überzeugt, dass es auf den Kontext ankommt – die Leute sind enttäuscht, wenn sie keine Orientierung finden oder wenn ihnen etwas geboten wird, was sie nicht einordnen können. Während sie sich für filmische Errungenschaften (neuer) Werke begeistern können, wenn sie ihnen auf richtige Weise präsentiert werden.  

 

Bero Beyer bei StepIn.ch am Filmfestival Locarno

Bero Beyer ist seit 1. August 2015 künstlerischer Direktor des International Film Festival Rotterdam (IFFR). Zuvor war er Produzent (Augustus Film) und Berater beim Dutch Film Fund. In Locarno ist Beyer Gast bei StepIn.ch, ein Anlass der Industry Days. Thema der Veranstaltung: Werden die Finanzierungs-, Produktions- und Verbreitungsmodelle von Schweizer Filmen den gegenwärtigen Herausforderungen gerecht?
StepIn.ch lädt Verleiher, Produzenten, Fernsehfachleute, Kinobetreiber und Vertreterinnen und Vertreter der Institu­tionen zur Diskussion und fragt, wie Schweizer Filme ihr Publikum in der Schweiz und im Ausland besser erreichen können.  Gespräche mit Bero Beyer und Carolle Brabant (Direktorin von Telefilm Canada) sollen aufzeigen, wie Länder wie die Niederlande oder Kanada ähnliche Fragen angehen. Christian Jungen (NZZ am Sonntag) wird zudem die Ergebnisse seiner Studie zur Schweizer Kinolandschaft präsentieren, die er für «Frame» realisiert hat. 

Moderation: Emmanuel Cuénod, künstlerischer Leiter des Geneva International Film Festival Tous Ecrans

Samstag, 6. August
14:30 - 16:00, Hotel Belvedere, Locarno. Eintritt frei.

 

Englischer Originaltext:

What is your experience with Swiss films as a producer and as a festival director?
As a producer I have been involved in two productions with Swiss elements: My company was one of 8 (yes eight) co-producers of the Palestinian film by Annemarie Jacir: “Salt of the Sea” (Palestinian Oscar entry) and the director Anup Singh of the Indian production “Qissa, the ghost is a lonely traveller” is a Swiss resident. Now at IFFR we recently programmed a Swiss directed and produced film, “Iraqi Odyssey” by (Iraqi born) Samir, during our special summer program IFFR White Nights.

Should we even talk about « Swiss films » or « Dutch films »? Does those national limitations make any sense?
I have always been a proponent of the idea to give a film the right nationality based on its character, which is usually  -but not always- the nationality of the director. This may be conflicting with the traditional categorisation based on sources of finance or residency of the majority production company. To give you an example: Paradise Now (Berlinale 2005) was produced by a Dutch production company with German, French and Israeli co-producers and directed by a Dutch resident (Palestinian born Hany Abu-Assad). We presented it as a Palestinian Film though and entered it for the Oscars and Golden Globs as such. Clearly it wouldn’t have been made the way it was without the intriguing coproduction structure, and I would argue it become as strong as it was because of it – but for the press and public the Palestinian nature is more relevant.

What would you say about the following statement: « The Swiss are strong in the documentary field but their fictions are often not so compelling»
I cannot say I have seen enough Swiss docs or even fiction features to support or oppose that claim, but oddly enough the same argument is often made for the Dutch film industry, which also boasts a strong documentary tradition. This could mean two things: A - the Swiss have an observant and inquisitive nature that lends itself more naturally for documentary filmmaking in stead of a more grandiose need to engage in ambitious and internationally relevant fiction work. B – the relative success and recognition of documentaries clouds the fact the fiction work is simply not good enough.

Do you understand the feeling of inferiority, or of inadequacy, people tend to have towards their own filmmaking industry?
Yes, it is common for every nation or even region. People tend to forget that one usually is exposed only to the very best of international work but to everything from ones own territory, including the very mediocre fare. Believe me, there are substandard and mediocre films made everywhere. Truly great cinema is rare all over the world.

On the other hand, do you feel a renewed spirit in the young generation? If yes, how does it appear?
Of course there is a new spirit. There always is and cinema would be dead without it. The interesting part is that the renewal will most likely appear from an unexpected angle. We tend to want to predict the truly new stuff, which is a contradiction in itself. The only constant (apart from change) is the human need for visual storytelling – preferable in a communal experience, i.e. with a large simultaneous audience.

There’s a lot of Swiss films in festivals, but they have a hard time in official competitions of mayor A-List-festivals, how do you explain that?
1. Maybe they’re not good enough, 2. Maybe they are presented in a weak way or context, 3. Maybe they are not good enough (this may be true for most films and nations by the way, including the Dutch)

The market share of Swiss films in local movie theaters in 2015 was only 5.52 percent. What do you make of it?
Well, that is not good. The Netherlands has had a market share of almost 20 percent of Dutch films for several years now, but a couple decades ago it was frighteningly low as well. There needs to be a certain depth of field, from hardcore auteur arthouse to mainstream entertainment. Diversity of (film) culture is a hugely important factor to any society. This is why film festivals for instance are so important, especially if they serve to broaden the view on what cinema can be. This is the mission of IFFR and I believe Locarno is infused by that same spirit. For the Swiss film industry, the filmmakers and talents, the room for development is dependent on the appreciation for the work, at festivals, and throughout the year at the (regular) box office.

There’s more and more productions coming out. What would be your advice to young filmmakers in order not to go under the radar?
It has never been so easy to make a film. In theory everyone with a smartphone can shoot, edit and distribute their movies. At the same time it has never been so hard to get films noticed. The cliché about luck it probably very true. But at the end of the day the only true way to make an impact to is be outspoken, realistic and ambitious. Never mistake professionalism or market awareness for artistic compromise. Don’t cater to or try to please a specific audience, but be very, very aware of who you are talking to. Even an audience of one can be a valid audience (but don’t expect to get funding for that). There is no excuse for mediocrity. But my only real advice to young filmmakers is to watch other people’s films. Look around at the films that are made, how they are made, why they are made.

What would you recommend to filmmakers and producers who cannot show their films in theaters ?
At IFFR we’ve developed something we call IFFR Unleashed. IFFR Unleashed helps selected festival films to find audiences through key Video On Demand (VOD) platforms around the world. It is a long-term commitment to help navigate the often daunting, and occasionally exasperating, on-demand landscape. We try to combine this with other distribution initiatives and event programming. At IFFR we believe context is crucial. People may get disappointed if they get lost or are being served something they cannot put into context. Whereas they may be able to truly appreciate the cinematic achievements of (new) work if presented in the right manner.

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