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Eine Frage der Mentalität


25. Juli 2016

Alle paar Jahre diskutiert die Branche über das fehlende Interesse der Romands am Schweizer Film. Zum Beispiel diesen August am Filmfestival Locarno wieder. «Röstigraben im Schweizer Film?», lautet der Titel einer Podiumsdiskussion, welche der Schweizerische Verband der Filmjournalisten organisiert. Grund für die Veranstaltung sind folgende Zahlen: Im Jahr 2015 wurden 90 Prozent aller Eintritte für Schweizer Filme in der Deutschschweiz verzeichnet, nicht einmal 8,5 Prozent entfielen auf die französische Schweiz. Dort hat das einheimische Filmschaffen einen miserablen Marktanteil von 1,6 Prozent (obwohl die Leute häufiger ins Kino gehen). Zum Vergleich: in der Deutschschweiz betrug er 7,3, in der italienischen Schweiz 3,4 Prozent. 

Gérard Ruey, der Leiter der Filmstiftung Cinéforom, sagte, das hänge mit der Kinosituation zusammen. In manchen Städten, etwa in Genf, erhielten Schweizer Filme kaum noch eine Leinwand. Etatisten tun das, was sie immer tun: Sie verlangen Geld vom Staat, damit er den Schweizer Film stärke. Die Misere hat aber weniger mit Geld als vielmehr mit der Mentalität der Welschen zu tun, die sich kulturell eher an Paris als an Zürich orientieren. Darüber diskutierte man schon 2001.

Damals organisierte Denis Rabaglia eine Tagung in Lausanne zur Krise des helvetischen Films in der Romandie, weil er darüber frustriert war, dass sein Spielfilm «Azzurro» 90 Prozent der Eintritte in der Deutschschweiz verzeichnete, obwohl er Romand ist und die Geschichte in Genf beginnt. Die Panelisten benannten folgende Gründe: 1. Die Romands verklären immer noch das Autorenkino von Tanner, Soutter und Goretta und kommen regelmässig zur Konklusion, dass die neuen Filme nicht auf dem Niveau der Groupe 5 seien; 2. der Schweizer Film bekomme kaum Leinwände; 3. es fehle an Geld für Herstellung und Promotion welscher Filme. 

Seither ist viel passiert. Sehr viel sogar. 1. Mit Ursula Meier, Jean-Stéphane Bron und Lionel Baier hat die Romandie eine Autorengeneration, die längst aus dem Schatten der Überväter getreten ist. 2. Der Schweizer Film bekommt sehr wohl Leinwände. «Schellen-Ursli» erhielt 20 Leinwände, lief aber enttäuschend. 3. Es gab viel mehr Geld, inzwischen wurde die Filmstiftung Cinéforom mit einem jährlichen Budget von rund 10 Millionen Franken ins Leben gerufen, die auch die Promotion unterstützt. Der Bund fördert das welsche Filmschaffen sogar überproportional. 

Ich glaube deshalb, dass es nicht eine Frage des Portemonnaies ist, wenn der Schweizer Film in der Romandie nicht vom Fleck kommt, sondern eine Frage der Mentalität. Ich bin aus privaten wie beruflichen Gründen oft in der Westschweiz und stelle immer wieder fest, dass es sogar den «professionnels de la profession», wie Godard sie nannte, an Interesse mangelt. Einige Beispiele:

• Am Festival Visions du Réel trifft man kaum je welsche Filmkritiker. Dieses Jahr liefen mit «Calabria» von Pierre-François Sauter und «Like Dew in the Sun» von Peter Entell zwei welsche Produktionen. «Le Temps», «24 heures» und «Tribune de Genève» war keiner der Titel auch nur eine kurze Besprechung wert. 

• Wenn der Schweizer Filmpreis in Zürich verliehen wird, machen sich die Romands rar. Obwohl er mit «La Vanité» für den besten Spielfilm nominiert war, zog es Lionel Baier vor, in Paris zu bleiben. Als sein Film in Locarno Premiere feierte, machte er sich auf der Piazza Grande über die Deutschschweizer lustig.

• Als letztes Jahr am Zurich Film Festival die restaurierte Kopie von «Marie-Louise» gezeigt wurde, sagte Filmarchiv-Direktor Frédéric Maire «Guten Abend» und hielt seine zehn­minütige Einleitung auf Französisch.

Viele Deutschschweizer, die frankophil sind, finden das sogar noch sympathisch. Wir lieben die Romands als unsere aufmüpfigen Gallier und schauen uns ihre Filme gerne an. Aber hören wir doch auf, aus Sorge um politische Korrektheit über Scheingründe zu diskutieren. Als 2005 Doris Senn in der «Aargauer Zeitung» unter dem Titel «Die Romandie foutiert sich um den Schweizer Film» das Thema beleuchtete, erklärte Jean-Stéphane Bron, das liege daran, dass die Deutschschweizer Filme thematisch zu lokal seien. Pardon, aber «Heimatland» ist national, hat drei welsche Co-Regisseure, lief im internationalen Wettbewerb von Locarno und hatte in Frankreich ein Startdatum, als sich die Kinobetreiber in der Romandie noch zierten, ihn zu zeigen. Nur in Genf und Lau­sanne will man ihn offenbar nicht zeigen. Aber wenn sich nicht einmal der Direktor einer nationalen Institution um Verständigung bemüht, wie soll man dann vom kommunen Publikum verlangen, dass es Deutschschweizer Filme schaut? Und fehlt es in der Film­szene der Romandie nicht auch an Solidarität? Wie sonst ist zu erklären, dass ein Spielfilm von Ruxandra Zenide keine 1ʼ100 Zuschauer macht? Wären wenigstens die geneigten Kreise so neugierig gewesen, ihn anzuschauen, hätte er mindestens 5ʼ000 erreicht. Eine ehrliche Diskussion ohne Tabus tut not. 

Christian Jungen, Filmkritiker «NZZ am Sonntag», Redaktionsleiter «Frame» und Präsident des Schweizerischen Verbandes der Film­journalisten.

«Röstigraben im Schweizer Film?» Podiums­diskussion des Schweizerischen Verbandes der Filmjournalisten (SVFJ). 
8. August, 14:30 bis 16:00, La Magnolia (Spazio RSI), Locarno. Eintritt frei.

 

 

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