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Am meisten zu reden gibt die Gewalt

Kathrin Halter
17. Juni 2016

Wie in der Schweiz Altersfreigaben für Kinofilme zustandekommen. Wonach Filme beurteilt werden. Und weshalb es immer noch kantonal unterschiedliche Regelungen gibt. Ein Einblick.  

Von Kathrin Halter

Ein Sonntagnachmittag im Kino, es läuft «The Jungle Book», die Neuadaption des Animationsfilmklassikers. Die Vorlage kennt jedes Kind, also auch meines. Darauf beziehen sich die Erwartungen: ein witziger, zauberhafter, ungemein verspielter Tierfilm, vielleicht etwas kindlich, zu kindlich für eine Elfjährige? Von dieser Illusion werden wir schnell befreit. Schon die Eingangssequenz treibt den Puls hoch: Wie Mowgli da durch den Urwald gejagt wird, eine rasende Wildkatze im Nacken, die ihn durchs Dickicht jagt, ist so atemberaubend wie furchteinflössend inszeniert.

Dass sich die Szene mit einer Erleichterung auflöst – das Raubtier erweist sich als Panther Bagheera, der väterliche Freund des Buben –, ändert an der Wirkung wenig. Hier wird einer jungen Zuschauergeneration gleich zu Beginn der Tarif durchgegeben: Disney macht kein Kinderzeugs mehr, hier geht es ab, mit rasendem Tempo und allen Mitteln des computergenerierten, akustisch getriebenen Überwälti­gungskinos. Das Kind klammert sich denn auch mehrmals fest oder versinkt mit halb geschlossenen Augen im Sessel – toll findet sie es trotzdem. 

Wirkungsmacht Kino als Argument

Zugelassen ist «The Jungle Book» ab 8 Jahren, empfohlen wird der Film ab 10. Die Einschätzung stammt von der «Schweizerischen Kommission Jugendschutz im Film», der auch Pia Horlacher angehört. Die frühere Filmredaktorin der NZZ ist seit langem auch Mitglied in der Zürcher Jugendfilmkommission; hier wurde der Film auf K10 freigegeben (das heisst ab 6 erlaubt, ab 10 empfohlen). 

Vom digital aufdatierten «Jungle Book» war sie begeistert; der «wunderschöne Film» habe in beiden Kommissionen allerdings grosse Diskussionen ausgelöst und sie hätten in der Gruppe, auch aufgrund langjähriger Erfahrungen mit Kinderfilmen, schliesslich auf 10 plädiert, nicht auf 6, wie es der Verleiher vorschlug. Die Wirkung im Kino sei immer viel mächtiger als im Fernsehen. Zudem wirkten die digitalen Tiere, ganz anders als im Zeichentrickfilm, ungemein echt, was zusammen mit der hohen Schnittfrequenz und der Drastik der Actionszenen grosse Intensität erzeuge. 

Disney hat dann gegen die Einstufung Einsprache erhoben und so gab es gemäss dem üblichen Vorgehen eine zweite Visionierung mit drei weiteren Kommissionsmitgliedern. Schliesslich wurde neu entschieden, wie besagt auf Alter 8 (10). 

Wie kommen solche Entscheide eigentlich zustande? «Ab dem 1. Januar 2013 werden alle Filme schweizweit eine Altersempfehlung aufweisen, welche sich entweder an jener der FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der deutschen Filmwirtschaft) orientiert oder von der Kommission Jugendschutz im Film vergeben wird», so heisst es auf der Website Schweizerischen Kommission (www.filmrating.ch). 

Bevor es ihre schweizweite Alterseinstufung gab, galten bis Ende 2012 unterschiedliche kantonale Regelungen für das Zutrittsalter in Kinofilme. Nur die Kantone Tessin und Zürich nehmen – vorläufig – nicht an jener Vereinbarung teil, die von der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, ­ProCinema und dem Schweizerischen Video-Verband (SVV) getroffen wurde. 

Ohne Einsprache oft keine Visionierung

In der Regel schlagen die Verleiher ein Eintrittsalter vor, wobei sie sich gerne auf das Rating der FSK berufen. Wo eine Empfehlung der FSK fehlt, was häufig der Fall ist, reichen die Verleiher einen eigenen Vorschlag ein; darüber beraten die Kommissionsmitglieder. Erst wenn vier von ihnen (mit Begründung) eine Visionierung verlangen respektive eine Einsprache gegen den Vorschlag machen, wird der Film von drei Mitgliedern neu bewertet. 

Bei ihren ersten Einschätzungen müssen Experten meist auf schriftliche Informationen und Filmtrailer zurückgreifen; ohne Einsprachen können die Experten die Filme oft gar nicht sehen, sagt Pia Horlacher. Das sei bei Studiofilmen allerdings meist kein Problem. Es sei auch keinesfalls so, dass die Verleiher die Ratings so niedrig wie möglich ansetzen – diese wollen ja keine unnötigen Kosten durch zusätzliche Visionierungen verursachen, im Gegenteil: Viele kleinere Verleiher verlangen deswegen oft gar keine Herabsetzung des Alters mehr.  Findet eine Vorstellung statt, wird anschliessend diskutiert und ein kurzes Protokoll verfasst, wobei man sich in der Schweizerischen Kommission laut Pia Horlacher bereits in der Diskussion auf einen Vorschlag einigen muss. 

Anders im Kanton Zürich: Da wird von Amtes wegen jeder Film, der eine Alterssenkung (unter 16) erhalten soll, begutachtet; anschliessend schreibt jeder der drei Experten einen Bericht. Entschieden wird aufgrund der Berichte schliesslich von der Oberjugendanwaltschaft respektive vom daran angegliederten Jugendfilmwesen des Kantons Zürich. Oberjugendanwalt Marcel Riesen-Kupper kommt vor allem dann ins Spiel, wenn sich die drei Filmsachverständigen nicht einig wurden.  

In der Waadt werden alle Filme angeschaut

Eine Sonderregelung kennt auch der Kanton Waadt: Alle Filme, die in der Westschweiz anlaufen, müssen von Amtes wegen («retour d’office») visioniert werden. Nur unter dieser Bedingung war der Kanton bereit, beim Schweizerischen Modell mitzumachen. Im Kinder- und Jugendmedienschutz hätten Waadt und Genf klare Überzeugungen, sagt Marc Flückiger, Präsident der JIF. So gab es in den Westschweizer Parlamenten immer wieder Vorstösse, den Kinder- und Jugendmedienschutz (kantonal) weiterzuführen. Zudem gibt es für viele französischsprachigen Filme, die in der Romandie anlaufen, schlicht keine FSK-Auszeichnung. 

Am FSK-Rating wurden oft die grossen Altersabstände und die relativ niedrigen Einstufungen kritisiert; zudem ist das System zwangsläufig deutschlandorientiert. Dass dies ein Grund sei für das Ausscheren des Kantons Waadt, wie schon gemutmasst wurde, bestreitet Mark Flückiger allerdings. 

Und worauf stützen sich die Experten bei ihrer Bewertung? Entscheidungskriterien sowohl bei der schweizerischen wie auch bei der Zürcher Kommission bieten so genannte «Indikatoren» (wie «zum Nachdenken anregend», Dauer, Humor, «kulturelles Interesse») respektive «Gegenindikatoren» (eher problematische Aspekte wie Angst und Schrecken, Diskriminierung, Verachtung, Gewalt, negative Vorbildwirkung, psychisch belastende Beziehung, Sexualität, Suchtverhalten, vulgäre Sprache, unsittliches Verhalten). Nun bieten derlei abstrakte Begriffe natürlich grösseren Interpretationsspielraum – Filmbewertungen sind bekanntlich keine exakte Wissenschaft. Hängt die Altersfreigabe also primär von der Zusammensetzung der Kommission ab? 

Keine Milchbüchleinrechnung

Marc Flückiger verneint. Einerseits seien Indikatoren dazu da, um gewisse Standards festzulegen und die persönlichen Faktoren zu verkleinern, andererseits werde auch keine «Milchbüchleinrechnung» erstellt. Beim Kriterium «Gewalt» zum Beispiel werde, sehr differenziert, nach ihrem Kontext gefragt, ob man etwa nachvollziehen könne, wie sie entstehe und so weiter. 

Sex gebe in der Kommission generell weniger Anlass zu kontroversen Diskussionen als Gewalt, so Flückiger. Das sieht auch Pia Horlacher so, die bezüglich Erotik sowieso meist liberal entscheidet. Problematisch sind für sie hingegen die seit Jahren steigende Gewalt und Brutalität zur Unterhaltung im Actionkino, das sich ja gerade an ein jüngeres Publikum wende. 

Einerseits gibt es Verleiher, die sich über zu hohe Alterseinstufungen, gerade bei «Gewaltschinken» (Horlacher) ärgern und Einsprache erheben. Auch den umgekehrten Fall gibt es immer wieder: Marcel Riesen-Kupper, der Zürcher Oberjugendanwalt, erinnert sich noch gut an Reklamationen wegen der Alters­einstufung von «L’Ours» («Der Bär», 1988) von Jean-Jacques Annaud, der ab 6 freigegeben wurde. Eine Szene mit der kämpfenden Bärenmutter hat damals viele Kinder offenbar derart erschreckt, dass sich besorgte Eltern beschwerten. Man sei danach vorsichtiger geworden. 

Interessant ist der Streitfall um «L’inconnu du lac» (2013), der Film von Alain Guiraudie um eine schwule Affäre, die im Mord endet. So wurde «L’inconnu» im Kino auf 18 Jahre gesetzt – ein seltener Fall: Zwischen 2012 und 2015 wurden von der Schweizerischen Kommission gerade mal 6 von insgesamt 1ʼ503 Filmen auf 18 Jahre eingestuft. Im DVD-Handel hingegen war «L’inconnu» bereits ab 16 erhältlich. 

Dass Altersvorgaben zwischen Kinovorstellungen und digitalen Trägermedien immer noch auseinanderklaffen, liegt daran, dass bei DVDs fast immer die Altersfreigaben der FSK übernommen werden. «Deutschsprachige DVDs sind in der Regel auf der Verpackung bereits beim Import mit einer Altersfreigabe versehen», schreibt der Videoverband SSV. Importe aus dem französisch- und italienischsprachigen Raum wiesen hingegen oft keine Altersempfehlung auf. In solchen Fällen nehmen die Mitglieder des SSV eine Alterseinstufung nach dessen Richtlinien vor. 

Jedenfalls wäre es sinnvoll, wenn es auch in der Schweiz ein System gäbe, das für alle Medien gleichermassen gilt: für Kino, Fernsehen, digitale Medien sowie VoD. Und zwar eines, das auch alle verstehen.

www.filmrating.ch

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