MENU Schliessen

News

Edisons Rache

José Michel Buhler, distributeur et producteur
16. Juni 2017

Die Brüder Lumière haben den Kine­mato­graphen erfunden und mit ihm die Projektion, den Kinosaal und das Lichtspielspektakel. Der Kinosaal: ein Ort, wo sich eine Gruppe von Menschen im Dunkeln versammelt, gemeinsam in die bewegten Bilder eintaucht, die grösser sind als sie selber. Wo jeder Einzelne allein, offen, ungezwungen, empfänglich, im Schutz der Dunkelheit seine Aufmerksamkeit auf die filmische Erzählung richtet, doch stets im Bewusstsein, Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Zuvor schon hatte Edison einen Apparat für Filmaufnahmen und einen für die Wiedergabe, das Kinetoskop, erfunden, mit dem sich eine einzelne Person die gefilmten Szenen anschauen konnte. Zwei komplett verschiedene Konzepte: Eines richtet sich ans Kollektiv, das andere ans Individuum.

Es gibt also das Kino und den Film. Das Kino als Raum für die Filmdarbietung und der Film als Objekt, das man sich nun seit geraumer Zeit auf viele andere Arten und auf allen möglichen Leinwänden, Bildschirmen oder Displays privat anschauen kann – mit oder ohne Projektion.

Die Filmliebhaberinnen und -liebhaber werden es Ihnen bestätigen: Es gibt nichts, was  dem Erlebnis einer Filmvorführung gleichkommt. Ein grosser Saal, eine breite Leinwand, ideale technische Bedingungen sind für einen Film optimal, während die Displays eines Smartphones, Tablets oder der Fernsehbildschirm es nie sein können. Man denke an Guernica oder Las Meninas im Madrider Museum: Die Gemälde dort zu sehen, ist eine völlig andere Erfahrung, als eine Reproduktion auf einer Postkarte zu betrachten.  

Polemik in Cannes

Natürlich begibt man sich nicht jeden Morgen nach Madrid, man wohnt auch nicht zwingend in unmittelbarer Nähe eines Kinos, das grad jene Filme zeigt, die man sehen möchte. Ausserdem sind nicht alle Säle angenehm, und man muss sich zu einem Besuch aufraffen, ihn organisieren und planen. Während man sich doch für nicht allzu viel Geld eine Anlage für eine Filmvorführung zu Hause anschaffen kann, deren technische Qualität den Vergleich mit gewissen Kinosälen nicht scheuen muss. Ein Monatsabonnement für Netflix kostet übrigens gleich viel wie ein Kinoeintritt.

Im Internet hat man perma­nenten Zugang zu den Meninas und kann sich nach Belieben in Einzelheiten des Gemäldes vertiefen und sich dem Bild anders annähern als im Museum – eine neue Erfahrung. Auch bei einem Film kann man zu Hause eine Szene wiederholen, den Film unterbrechen und sich eine Aufnahme genauer betrachten, bevor man weiter­klickt – auch das eine neue Erfahrung.

Die seit über 100 Jahren vor­­herr­schende Form der Film­­aus­wertung, die nur kleine An­passungen an die technischen Entwicklungen erfahren hat, steht zweifellos vor einem radikalen Wandel. Die Polemik in Cannes und die Lösung mit dem neuen Festivalreglement, wonach ab nächstem Jahr alle Wettbewerbsfilme auch in den französischen Kinos gezeigt werden müssen, ist auf die Dauer ein verlorener Kampf. Das im Lauf der Jahre entwickelte französische Modell ermöglicht den Erhalt eines unabhängigen und qualitativ hochstehenden Filmschaffens, den Schutz aller Beteiligten in der Filmherstellungskette (von den Autoren über die Regisseure, Produzenten, Verleiher und Auswerter bis hin zu den Zuschauern) sowie den Einbezug der jeweils neusten Verbreitungskanäle (Fernsehen, Video, Streaming) in einer bindenden Verwertungskette. Dieses Modell ist gefährdet, durch die Globalisierung der Digitalwirtschaft sowie die Ambitionen der mächtigsten Anbieter wie Netflix, die sich die Exklusivität gewisser Inhalte garantieren möchten. Vermutlich werden wir den nächsten Film von Martin Scorcese ohne Abonnement bei diesem Anbieter nicht sehen können.
 

Ein gesättigter Markt

Grund zur Sorge oder Freude? Vermutlich ist das nicht die Frage. Es gibt heute eine Fülle von Filmen, ein Überangebot an Werken, die keinen Zugang in die Kinos finden, welche ihrerseits die Programme immer rascher wechseln. In der Schweiz bremst das BAK die Gründung neuer Verleihfirmen, indem es nur jenen Verleihern Fördergelder gewährt, die eine gewisse Grösse vorweisen können. Man ermutigt also zur Diversität, gleichzeitig wird der Elan neuer Akteure gedämpft... Das ist ein Zeichen für einen gesättigten Markt. Freuen wir uns doch, dass einige der angekündigten Blockbuster auf Plattformen abwandern und  Freiraum schaffen, für den wir weiterhin kämpfen werden.

Und man wird für den Schutz der Kinosäle kämpfen müssen (vor allem jener, die sich für ein Kino engagieren, das nicht nur dem Gesetz des Markts gehorcht) und für die Verleiher (die diese Säle beliefern), für die Vielfalt des Angebots und für seine Zugänglichkeit. Doch es ist unvermeidbar, dass ein wachsender Teil der Inhalte sich dem heutigen Kreislauf entzieht und dass die Rolle der Verleiher (deren Tätigkeit gefährdet ist) und der Kinos neu überdacht werden muss.

Dieser Prozess ist bereits in Gang: Die Säle veranstalten Direktübertragungen von ­Opern- ­und Theateraufführungen, auch Vorführungen an Veranstaltungen oder im Rahmen zahlreicher lokaler Festivals haben Erfolg und mehren sich.

José Michel Buhler, Verleiher und Produzent

 

▶  Originaltext: Französisch

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife