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Wenn Filme in der Versenkung verschwinden

Pascaline Sordet
04. Januar 2021

Denis Rabaglia hat die Weltrechte an seinem Film «Grossesse nerveuse» (1993) vom französischen ­Ko­produzenten zurückgekauft.

Wenn Produktionsfirmen geschlossen werden oder Konkurs anmelden, bricht die Kette der Nutzungsrechte oft ab. Die Folge: Bestimmte Filme können nicht mehr gezeigt werden.

Die Frage nach dem Fortbestand von Filmen ist nicht neu, hat sich aber vor rund fünfzehn Jahren wieder verschärft. Grund dafür sind die Digitalisierung, die Struktur des Marktes für filmisches Erbe und der politische und kulturelle Wille, alte Filme zu restaurieren und zu digitalisieren. Die Rechte werden abgetreten und haben oft eine befristete Laufzeit. Wer Laufzeit sagt, sagt auch versäumte Erneuerung. Und damit Vergessen. Und in der Folge Verlust.

Wo sind die Negative? Wer besitzt die Rechte? Was ist aus den historischen Produktions- und Vertriebsfirmen geworden? Frédéric Maire, Direktor des nationalen Filmarchivs Cinémathèque suisse, fasst unser «Schweizer Problem» zusammen: Hierzulande ist die Filmindustrie fast inexistent. «Die einzige Produktionsfirma, die auf eine lange Geschichte zurückblickt und über einen echten Filmkatalog mit den entsprechenden Rechten verfügt, ist Praesens Film in Zürich. Daneben gibt es ausser ein paar Unternehmen, die in den 1970er und 1980er Jahren gegründet wurden und dank ihren Gründern immer noch da sind, nur kleine Firmen, die ein paar wenige Filme produziert haben, gedreht zumeist von Filmemachern oder Kollektiven. Viele dieser Firmen haben nicht überlebt. Ihre Betreiber wurden zu Produzenten, um ihre eigenen Arbeiten zu verwirklichen oder um anderen zu helfen, aber ohne in einem geschichtlichen Kontext zu denken.»

 

Wo liegt das Filmmaterial?

Wenn eine kleine Produktionsfirma, wie es sie zu Hunderten in der Schweiz gibt, aufgelöst wird, verschwindet sie – meist völlig unbemerkt – mitsamt ihrem Katalog im Dunkel der Geschichte. Noch schlimmer: Das kümmert keinen Menschen, bis irgendwann ein alter Film gezeigt werden soll, dessen Nutzungsrechte und manchmal sogar dessen Kopien unauffindbar sind. Wenn ein Unternehmen einen umfangreichen Katalog besitzt, weil es entweder die Filme bekannter Urheberinnen und Urheber produziert hat oder weil sein Filmschaffen vielseitig und umfangreich ist (wie etwa VEGA Film, C-Films oder CAB Productions), stellt sich dasselbe Problem der Nachfolgeregelung und der Rettung seines Katalogs etwas ausgeprägter. Die beiden grössten Schwierigkeiten: Wo liegt das Filmmaterial – in den meisten Fällen die Negative – und wer besitzt und verwaltet die Rechte an diesen Filmen? Das erste Problem scheint zwar leicht lösbar, ist es aber nicht. Die meisten Materialien von Schweizer Filmen sind im Filmarchiv hinterlegt, wo die Negative der nicht mehr existenten oder aufgekauften Labore wie Cinégram, Egli oder Schwarzfilm eingelagert wurden. Zahlreiche Schweizer Filme entstammen jedoch einer Koproduktion mit dem Ausland. «Einige Negative der Filme von Claude Goretta befinden sich bei der Firma Éclair in Frankreich», erklärt Frédéric Maire. «Man müsste sie eigentlich in die Schweiz zurückbringen, um sie zu digitalisieren und in der Cinémathèque zu hinterlegen.» Diesen Wunsch kann ein französischer Koproduzent ablehnen, wenn sich die Negative in seinem Besitz befinden. Noch dramatischer wird es, wenn die Entwicklungslabore zusammen mit ihrem Lager verschwinden, oder wenn bestimmte Kopien im Laufe der Zeit einfach verlorengehen.

 

Die kommerziellen Rechte

Das zweite Problem sind die Rechte. Wer besitzt sie? Wo sind die Verträge, die beweisen, dass die Forderungen der jeweiligen Parteien legitim sind? Die Urheberinnen und Urheber unterschreiben in der Regel Verträge, die den Produktionsfirmen erlauben, den Film während 30 Jahren zu nutzen. In den am besten organisierten Firmen  können dank der Bewirtschaftung des Katalogs diese Verträge erneuert werden, sobald sie abgelaufen sind, oder es kann mit den Urheberinnen oder den Erben verhandelt werden.

Praesens Film, die älteste Produktionsfirma der Schweiz, geht dabei vorbildlich vor: «Als ich meine Stelle antrat», berichtet Corinne Rossi, «war eigentlich jeder für alles zuständig. Seither haben wir in ein System zur Verwaltung der Urheberrechte investiert, das uns auf auslaufende Verträge in unserem umfangreichen Katalog hinweist». Doch auch für kleine Kataloge wäre eine solche Kontinuität ideal. Davon sind wir jedoch weit entfernt. In den 1970er Jahren wurden zahlreiche Vereinbarungen per Handschlag oder am Küchentisch abge­schlossen. Frédéric Maire gibt ein Beispiel: «Seuls» von Francis Reusser wurde von Eric Franck und Reusser selber unter der Firma Sagittaire Films produziert. Doch diese Firma wurde nie offiziell gegründet, und den Namen trat man später an einen anderen Filmemacher ab.

«Kompliziert wird es dann», so der Kommentar von SSA-Direktor Jürg Ruchti, «wenn verschiedene Firmen koproduzieren oder Aufträge an andere Personen abgeben, so dass am Schluss keiner mehr weiss, wer denn nun die Rechte besitzt. Dieses Phänomen wird durch die Tatsache verstärkt, dass diese Firmen juristische Personen sind, die schliessen, fusionieren oder Konkurs gehen können». Die einzigen Belege für diese Transaktionen sind Jahre später die Verträge. In Frankreich verwaltet das nationale Filmzentrum CNC ein Register, in dem alle diese Dokumente archiviert werden, einschliesslich jener zu den Konkursen und Unternehmensübertragungen. Es funktioniert wie ein Handelsregister für Filmgesellschaften. Dank mühsamer Fleissarbeit ist es möglich, die rechtmässigen Inhaberinnen und Inhaber der Rechte aufzuspüren. «Dieses Register ist eine wahre Goldgrube», meint Frédéric Maire, der bedauert, dass eine ähnliche Einrichtung in der Schweiz fehlt. Die «Erinnerung an früher» müsse diese Funktion übernehmen.

 

Teure Transaktion

Manchmal haben die Urheberinnen und Urheber die Möglichkeit, ihre eigenen Filme zu kaufen. Dies hat auch Denis Rabaglia mit «Grossesse nerveuse» getan, seinem ersten Film von 1993: «Ich hatte mit dem französischen Koproduzenten einen Vertrag über 30 Jahre unterzeichnet. Als er in Pension ging, verkaufte er seinen Katalog und schlug vor, ich solle die Filmrechte kaufen (mit Ausnahme des Schweizer Territoriums, das Pierre-André Thiébaud gehört). Ich besitze demnach die weltweiten Rechte, als ob ich der Produzent des Films gewesen wäre.» Diese Transaktion kostete rund 5000 Euro. Nun darf der Regisseur seinen Film nach eigenem Gutdünken restaurie­ren und nutzen. «Ich wollte nicht, dass mein Film irgendwann in einem ungenutzten Katalog wie in einer Schublade vermodern würde.»

In einem System, in dem die Rechte unbeschränkt übertragen wurden, ist die Produktionsfirma allein für den Fortbestand ihres Katalogs zuständig. Müssen hingegen die Rechte immer wieder verhandelt werden, wenn der Vertrag abläuft und nicht erneuert wird, bedeutet dies nicht, dass der Film plötzlich der Regisseurin oder dem Drehbuchautor gehört. Er ist weiterhin im Besitz der Produktionsfirma oder der Person, welche die entsprechenden Rechte (durch Kauf oder Erbschaft) zwar erhalten hat, aber nicht mehr über das Nutzungsrecht verfügt. In diesem Fall darf keine der beiden Parteien den Film zu neuem Leben erwecken, und er verschwindet in der Versenkung.

Aus strukturellen und wirtschaftlichen Gründen ist es für die Produktionsfirmen interessanter, neue Filme zu produzieren, als bestehende Werke zu nutzen. «In dieser Hinsicht ist ein Covid-19-Effekt zu beobachten», meint Frédéric Maire. «Der zunehmende Erfolg der Streaming-Plattformen hat die Firmen motiviert, sich mit ihrem Katalog zu beschäftigen, und wir brechen unter dem Ansturm der Digitalisierungsanfragen fast zusammen.» So dient die Digitalisierung als Anreiz für die Produktionsfirmen, in ihren Karteikästen aufzuräumen.

 

▶  Originaltext: Französisch

Nach einem 2019 veröffentlichten Recherche-Dossier zu Netflix ist dieser Artikel das zweite gemeinsame Projekt von Cinébulletin und dem Journal der SSA.

 

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