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«Neugierde und Naivität sind legitimiert»


01. Dezember 2015

Carmen Jaquier est élève en Master ECAL/HEAD. Elle nous raconte son parcours d'étudiante, son cursus scolaire, mais aussi la vie d'une jeune scénariste et réalisatrice en Suisse.

Carmen Jaquier macht das Master-Studium bei ECAL/HEAD. Ein Gespräch über die Ausbildung, ihre Mitwirkung bei «Heimatland» und ihr Leben als junge Drehbuchautorin und Regisseurin.

Das Gespräch führte Winnie Covo

2007 haben Sie die Bachelor-Ausbildung an der Ecal begonnen. Was veranlasste Sie dazu? Wie ist Ihr Werdegang?

Ich wurde in Genf geboren. Nach meinem Grafikstudium an der Ecole d’arts appliqués, das ich mit einem Diplom abschloss, war ich zwei Jahre im Grafikbereich tätig. Ich merkte jedoch bald, dass mir dieses Leben – Büroarbeit, fremde Ideale vertreten, regelmässige Arbeitszeiten – nicht behagte.
Ich hatte mit einer Freundin bereits einen ersten Film realisiert, «Bouffe moi!», der 2004 am Festival Image in Vevey mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Schon damals wusste ich, dass ich mich eines Tages wieder dem Drehbuchschreiben, Geschichtenerzählen, der Inszenierung zuwenden würde. Als Kind schrieb ich mehrere Drehbücher und liess mich dabei von meinen Lieblingsfilmen inspirieren.
Ausserdem verliebte ich mich in einen jungen Mann, der an der Ecal in Lausanne studierte. Das gab mir vermutlich den letzten Anstoss.

War es schwierig, einen Platz in der Film­abteilung der Ecole cantonale d'art in Lausanne zu erhalten?

Meine Erfahrungen im Grafikbereich waren sicher ein Vorteil. Bei dieser Art Aufnahmeverfahren hängt der Wert des Bewerbungsdossiers teilweise davon ab, wie es präsentiert wird und ob man damit Interesse wecken kann. Was das Auswahlverfahren an sich betrifft, so besteht die grösste Schwierigkeit darin, dass sich viele Kandidaten um wenige Plätze bewerben.

Was haben Sie dort gelernt?

Auf Bachelor-Niveau lernt man ein bisschen von allem! Das Schwergewicht liegt auf der Regie, doch man bringt uns auch die Grundlagen des Schreibens, des Tons oder des Schnitts bei.
Zu Beginn unserer Ausbildung müssen wir unsere Projekte von A bis Z selber umsetzen. Das hilft uns, die wichtigsten Aspekte jeder Berufssparte besser zu verstehen, und wir lernen, unsere Visionen präziser zu kommunizieren.
 

Hätten Sie damals gedacht, dass Sie sich an den Master wagen würden?

Überhaupt nicht! Als ich 2011 meinen Bachelor in der Tasche hatte, dachte ich nicht im Traum daran, einen Master an der ECAL zu machen. Nach vier Jahren an der Schule wollte ich eine Veränderung und suchte eine neue Arbeits- und Lebensform.
Es kommt eine Zeit, da man Distanz zur Ausbildung braucht und alles hinterfragt. Nach meiner Ausbildung machte ich drei Jahre lang Filme, die meisten in Eigenproduktion. Dann kam nach und nach das Bedürfnis nach einem Ort auf, wo ich mich im Alltag austauschen und Leute treffen konnte. Beim Schreiben ist man sehr allein, und ich wünschte mir eine Begleitung für meinen ersten Langfilm.
 

In dieser Übergangszeit drehten Sie vier Kurzfilme: «Le bal des sirènes», «Les vagues», «Rome à la troisième heure de la nuit» (in Co-Regie mit Anissa Cadelli und Soumeya Ferro-­Luzzi) und «La rivière sous la langue». Arbeiteten Sie da mit Kollegen der ECAL zusammen, obwohl Sie keine Kurse mehr belegten?

Ja, sicher. Einige meiner Kolleginnen und Kollegen, die zu Freunden geworden sind, unterstützen mich beim Schreiben der Drehbücher, auf dem Set und bei der Postproduktion. Wir sind wie eine Familie, wir haben uns parallel entwickelt, das vereint uns vermutlich unser ganzes Leben lang.
 

Waren Sie nach dem Bachelor darauf vorbereitet, Finanzierungsgesuche einzureichen und andere administrative Schritte zu unternehmen, die für die Verwirklichung eines Filmprojekts nötig sind?

In meiner Bachelor-Ausbildung wurden die Diplomfilme noch von der Schule produziert. Wir stellten unsere Gesuche also in einem vertrauten Umfeld, was nicht dasselbe ist, wie wenn man sie beim Bundesamt für Kultur einreichen muss. Dossiers zusammenstellen lernte ich erst richtig, als ich allein oder mit Produktionsfirmen zu arbeiten begann.
 

Nun sind Sie seit 2014 in der Master-­Ausbildung. Wie läuft sie ab?

Ich mache im Moment eine zweijährige Ausbildung an den Schulen ECAL und HEAD. Ich habe mich aufs Drehbuchschreiben spezialisiert. Nach diesen zwei Jahren sollte ich eine Drehbuchversion für meinen ersten Langfilm abgeschlossen haben.
Während der ganzen Ausbildung hatten wir das Glück, von brillanten Referentinnen begleitet zu werden. Im ersten Jahr war es die Filmemacherin Katell Quillévéré. Dieses Jahr arbeiten wir mit der Schriftstellerin und Drehbuchautorin Florence Seyvos und der Regisseurin Delphine Gleize. Alle drei sind engagierte Frauen, die wissen, wie Sie uns beim Schreiben beraten können.
Seit Beginn dieser Ausbildung begegne ich regelmässig Menschen, mit denen ich mich austauschen kann und die mehr oder weniger denselben Arbeitsrhythmus haben. Im Drehbuchbereich teilen wir Momente des Glücks, der Verirrungen, der Erkenntnisse sowie eine grosse Verletzbarkeit.
Als Studierende haben wir den Vorteil, dass wir alle Fragen stellen und an alle Türen klopfen dürfen. Unsere Neugier und Naivität sind gewissermassen legitimiert. Doch leider verschwinden diese Eigenschaften meist, wenn der Status ändert.
 

Sie haben bei der Realisation des Films «Heimatland» mitgewirkt. Wie kamen Sie dazu?

Mein Freund Gregor Frei, mit dem ich an der Ecal den Bachelor machte, hatte direkten Kontakt zum Filmproduzenten. Über ihn hörte ich vom Projekt, das Michael Krummenacher und Jan Gassmann lanciert hatten. 
Das Abenteuer startete in meinem letzten Bachelor-Jahr. Die Dreharbeiten fanden letztes Jahr statt, als ich die ersten Masterkurse belegte. Das war ein höchst spannendes Projekt, das einen langen Atem erforderte.
 

Hatten Sie keine Probleme mit Ihrem Zeitplan?

Die Master-Studenten sind in der Regel 25 bis 35 Jahre alt. Wir können uns nicht ausschliesslich unserer Ausbildung widmen, sondern müssen gleichzeitig auch unseren Beruf ausüben. Das ist sehr wichtig.
Das letzte Jahr war sehr intensiv. Ich stellte «La rivière sous la langue» und meinen Beitrag zu «Heimatland» fertig. Beide Filme waren im August in Locarno zu sehen.
Angesichts der Arbeitsbelastung konzentrierte ich mich einige Zeit etwas weniger intensiv auf mein Drehbuch. Doch es sind genau solche Projekte, die mich letztlich zu meinen Drehbüchern inspirieren. Für mich war es unbedingt nötig, dieses Leben neben dem Master weiterzuführen.
In einem Zug zwischen Lausanne und Neuenburg las ich neulich einen Satz von Jean Piaget. Man müsse den Schülern das Denken lehren, doch in einer autoritären Situation könne das Denken unmöglich gelernt werden. Ich sehe einen hohen Nutzen in dieser Parallelität von Ausbildung und Leben. 
 

Die Masterausbildung von ECAL und HEAD ist am Netzwerk Cinema.CH beteiligt. Haben Sie als Studentin Beziehungen zu Ihren Kolleginnen und Kollegen an anderen Schulen?

Wir haben einen Austausch mit der ZHdK, ungefähr an vier Tagen pro Jahr. Das ist nicht genug, um intensive Beziehungen zu pflegen – allerdings spreche ich hier von mir. Doch würde ich einige meiner Kolleginnen und Kollegen im Rahmen eines Projekts wieder antreffen, so hätten wir zumindest eine gemeinsame Basis.
Beim Projekt «Heimatland», an dem Filmschaffende aus der ganzen Schweiz mitwirkten, kam ich mit Leuten aus anderen Ausbildungsstätten in der Schweiz oder im Ausland in Kontakt. Da merkte ich, wie unterschiedlich die Filmkulturen sind. Mit Filmschaffenden aus der Deutschschweiz zu arbeiten, war manchmal fast wie ein Schock. Solche Unterschiede innerhalb unseres Landes ermöglichen einen Austausch, bewirken Kontroversen und sind deshalb interessant und wichtig für mich.


Welchen Bezug haben Sie zum Schweizer Film?

Als ich klein war, zeigten mir meine Eltern die Filme von Godard, Goretta, Tanner, Murer, Schmid. Ich habe wunderbare Erinnerungen daran! Seitdem sind gute Filme meiner Meinung nach seltener geworden, doch ich habe den Eindruck, dass sich etwas bewegt. Dazu tragen auch die Schulen bei und die Beziehungen, die zwischen den Studierenden und Dozierenden entstehen, die ja aus allen Teilen der Welt kommen. Ich habe in den letzten Monaten einige hervorragende Erst- und Zweitlingsfilme gesehen. Sie kommen demnächst heraus, und ich versichere Ihnen: Es gibt den Nachwuchs!


Hatten Sie keine Lust, die Schweiz zu verlassen und anderswo zu studieren?

Ich mag Paris sehr und habe einen Teil meiner Freunde, meiner «Filmfamilie», dort. Ich arbeitete mehrmals in dieser Stadt und träumte davon, mich dort niederzulassen. Doch schliesslich kehrte ich doch immer wieder in die Schweiz zurück.
Für mich als junge Schweizer Filmmacherin ist es vorteilhaft, die Finanzierung meiner Filme hier zu suchen. Die Schweiz ist für die jüngeren Generationen ein inter­essantes Land, da sie noch relativ unerforscht ist. Und das Land ist insofern faszinierend, als es noch viel zu erzählen gibt. Das wirkt befreiend und dürfte die Filmschaffenden zu Experimenten anregen.
Die Welt ist klein, wenn man Filme macht. Man muss nur an Festivals gehen, um das zu merken. Dort entstehen Beziehungen, die zu verschiedenen Arten von Zusammenarbeit führen können.
Letztes Jahr drehte ich mit zwei Freundinnen einen Film in Rom, und wir fanden  dort, mit wenigen Mails von der Schweiz aus, unglaublich gute Leute, mit denen wir dann gearbeitet haben.
 

Es heisst manchmal, Studierende seien in ihren Diplomfilmen mutiger als später in der «realen» Welt. Was meinen Sie dazu?

Ich habe keine Meinung dazu, aber wenn ich jeweils an einem Festival die Kurzfilmprogramme studiere, bin ich selten überwältigt. Hat das mit der künstlerischen Linie des Festivals oder mit der Produktion zu tun? Es soll doch jeder die Filme machen, die ihn interessieren, und die Welt abbilden, die den eigenen Wünschen entspricht. Das gehört auch zum Filmemachen.
Während der Studienzeit braucht man Vorbilder, man reproduziert, was man mag, um die Machart zu verstehen. Der heutige Zustand der Welt zwingt junge Menschen, sich in die Zukunft zu versetzen. Das kann lähmend sein und die Entfaltung und Risikofreude hemmen. 
Leider ist die Schule kein Ort der Revolte mehr. Soweit ich das beurteilen kann, ist sie eher eine Wohlfühlzone, in der man zwar lernt, aber gleichzeitig den Schritt in die Welt hinauszögern kann. Eine Welt, die meiner Ansicht nach äusserst brutal ist. Die Angst schafft viele brave kleine Soldaten.
 

Wird in der Schweiz genug für den Nachwuchs getan?

Ja, nein – ich weiss nicht so recht. Das hängt von vielen Dingen ab. Alle wissen, dass der Nachwuchs, in welchem Bereich auch immer, für die Weiterentwicklung eines Landes unverzichtbar ist. Nicht nur ein Nachwuchs, der etablierte Wert­systeme bestätigt, sondern auch ein Nachwuchs, der einen kritischen, unorthodoxen, scharfsichtigen und/oder visionär neuen Blick auf die Welt hat.
Doch es liegt auch an der jungen Generation, Unterstützung zu fordern und sich Gehör zu verschaffen. Wir müssen uns auch daran machen, neue Herstellungsmodelle zu entwickeln und für die Zukunft des Schweizer Films ein vielfältiges und anspruchsvolles Umfeld zu gestalten.

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