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«Man sollte weniger Filme mit mehr Geld machen»


21. Juli 2017

Michel Merkt wird am Festival Locarno mit dem Premio Raimondo Rezzonico 2017 ausgezeichnet. Der Produzent über seine Arbeitsweise, private Investoren und wie man das Schweizer Filmfördersystem verbessern sollte.

Von Pascaline Sordet
 

Sie halten sich bewusst zurück und sind in den Medien wenig präsent. Weshalb?

Mich vorzudrängen ist nicht Teil meiner Kultur, geschweige denn meiner Erziehung. Und wie man so schön sagt: «Vivons heureux, vivons cachés». Doch es gibt weitere Gründe. Erstens sollten die Projekte, Regisseure und Schauspieler im Vordergrund stehen, zweitens bewirkt Erfolg oft Neid und Eifersucht. Da es politisch nicht korrekt ist zu sagen, dass ich lieber begehrt als bemitleidet werde, sage ich halt, dass ich lieber überrasche, als Erwartungen zu erfüllen.
 

Locarno verleiht Ihnen einen wichtigen Preis, den Premio Raimondo Rezzonico. Was bedeuten Ihnen solche Auszeichnungen?

Anerkennung ist wichtig, umso mehr, wenn sie von Branchenkennern kommt. Sie bereitet meiner Familie Freude und meinem Ego natürlich auch und sagt mir, dass ich auf gutem Weg bin. Ausserdem kann sie Türen öffnen. Was Locarno und den Premio Raimondo Rezzonico betrifft, so berührt mich das ganz besonders, weil man ja weiss, wie schwierig es ist, im eigenen Land anerkannt zu werden.
 

Sie sind innerhalb von weniger als zehn Jahren zu einem Star-Produzenten geworden. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Ich ziehe es vor zu sagen, dass ich als Produzent anerkannt bin, und zwar dank anspruchsvoller Projekte und dank der Menschen, mit denen ich das Glück hatte, arbeiten zu dürfen. Ansonsten liegt eine langfristige Strategie dahinter. Ich begann diese lange Lehrzeit schon viel früher, in anderen Arbeitsbereichen. Die Jahre in der Finanzbranche waren wichtig, ich war im Marketing, auf der Theaterbühne, habe als Fotograf und als Assistent gearbeitet und mehrere Praktika gemacht.
 

Ist diese Erfahrung ausserhalb des Filmbereichs wichtig, um den Beruf des Produzenten zu erlernen?

Sie ist unumgänglich, nur schon damit man einen Gesamtüberblick gewinnt. Wenn Sie wissen, wie die Kameras, die Schauspielerei und die Vorproduktion funktionieren, können Sie bei einem Problem sofort reagieren. Man kann Ihnen dann nicht irgendwelche Geschichten auftischen, und das ist wichtig, wenn man fürs Budget zuständig ist.
 

Das K der Signatur KNM, mit dem sie Ihre Projekte firmieren, steht für den Vornamen Ihrer Frau. Welche Rolle spielt sie bei Ihrer Arbeit?

Kate ist meine Wegbereiterin, mein Rettungs­anker, mein Warnsignal, meine Leibwächterin und vor allem: meine Frau und die Mutter unserer Kinder. Sie sagt mir offen, wenn sie nicht möchte, dass ich mit jemandem arbeite. Sie liest die Drehbücher, denn zwei Meinungen, vor allem auch die einer Frau, sind mehr wert als eine. Und schliesslich ist sie die Erste, die den Endschnitt der Filme sieht.
 

Haben Sie noch andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Nein, nur meine Frau und einige Personen, die uns zu Hause helfen; das passt mir sehr gut so. Allerdings habe ich jedes Mal mit Teams zu tun, und ich versuche jeweils, die besten zu finden.
 

Sie haben erklärt, dass KNM kein Unternehmen, sondern eine Signatur ist, und dass Sie je nach Projekt verschiedene Gesellschaften gründen. Weshalb gehen Sie so vor?

Entweder schliesse ich mich für ein Projekt bereits bestehenden Firmen an oder ich gründe – zur Absicherung – eine Firma, wie das in den USA gang und gäbe ist. So wäre meine Familie geschützt, falls eines Tages ein grösseres Problem entstünde: «Bettersafe­thansorry»! Das ermöglicht einem zudem, das Land oder sogar die interessanteste Stadt zu wählen – für die Nationalität des Films oder für die  Steueranreize.
 

Sie arbeiten von Monaco aus: Bietet Ihnen diese Distanz zur Schweiz einen anderen Blick auf unser Filmschaffen?

Wenn man an einem anderen Ort lebt, sieht man andere Beispiele. Manchmal wirft man mir vor, ich kenne die nationalen Besonderheiten nicht, weil ich nicht in der Schweiz lebe, doch in Wirklichkeit sind es in allen Ländern oft dieselben, nur drücken sie sich anders aus.
 

Sie meinen, wir sind so sehr mit unseren Problemen beschäftigt und merken nicht, dass es die gleichen auch im Ausland gibt.

Ich deute das nicht nur an! Wir sollten uns nicht dauernd beklagen, sondern schauen, wie wir vorwärtskommen.
 

Was halten Sie vom Schweizer Filmförderungssystem?

Die Subventionen sind unentbehrlich, doch vielleicht nicht mehr ganz angemessen, auch hinsichtlich ihrer Verteilung nicht. Heute hängt der Schweizer Film am Tropf. Die Leute sind sich dessen inzwischen bewusst, und das ist eine gute Gelegenheit für die Branche, das System neu zu überdenken – auch wenn das schmerzt –, bevor ihr unumgängliche Veränderungen auferlegt werden.
 

Was wäre zu verbessern?

Die Branche sollte professionalisiert werden. FOCAL hat ein sehr gutes Angebot, doch insbesondere die Produzenten sollten verantwortungsbewusster sein. Es darf nicht sein, dass man Projekte einreicht, ohne ihre Realisierbarkeit geprüft zu haben, und dass man Fördergelder kassiert, nur damit eine Firma überlebt. Allenfalls wäre es auch besser, ein Projekt nur einmal einreichen zu dürfen. Dass der Schweizer Film nicht mehr Erfolg hat, ist nicht die Schuld des Publikums! Man muss das System entlasten, indem man die Erfolge höher bewertet und als verpflichtend betrachtet und im Gegenzug die Gründe für einen Misserfolg analysiert. Die selektive Filmförderung könnte zu einer objektiven Unterstützung werden, indem man das Milizsystem begrenzt und den Erfolg klar definiert, beispielsweise anhand der Anzahl Filme in Cannes, einer jährlichen Oscar-Nomination oder der Zahl der Vertriebsländer. Ausserdem könnte man die automatische Förderung in eine progressive Förderung umwandeln. Ein Programm, das auf dem Papier einfach scheint, aber schwierig umzusetzen ist. Es liegt an der Branche, sich neu zu erfinden, indem sie gemeinsame Ziele festlegt. Denn das wirkliche Problem ist heute, entweder Mittel für unsere Ziele zu bekommen oder die Ziele unseren Mitteln anzupassen.
 

Worin besteht das Ziel?

Ich denke, man sollte weniger Filme mit mehr Geld machen. Das ist sehr pragmatisch und wird hart sein, weil das Filmemachen für einige schwieriger und für andere einfacher sein wird. Doch für all dies braucht es eine Definition von Erfolg. Im Fall von «l'art pour l'art» zum Beispiel werden Filminstallationen, die auch ihre Existenzberechtigung haben, zwar vielleicht nur 50 Eintritte verbuchen, dafür aber in die Sammlung des MoMA aufgenommen, was ja auch eine Form von Erfolg ist.
 

Müsste sich der Schweizer Film Ihrer Meinung nach vermehrt an private Investoren wenden?

Ja, aber auch hier und zumal auf diesem Niveau kommen nur Investoren und stecken möglicherweise Geld in das Filmschaffen, wenn es sich um gute Projekte handelt – denn wir sprechen hier von Investition, nicht von Mäzenatentum. Also könnte eine Risikoabsicherung, zum Beispiel über Anreize, den Leuten den Entscheid erleichtern.
 

Welche Bedeutung hat das Marketing für einen Kinostart?

Eine grosse Bedeutung, die leider oft unterschätzt wird, und die zumindest teilweise bereits bei der Projektlancierung berücksichtigt werden sollte. Das geschieht jedoch selten und wenn, dann nur mit lächerlichen Beträgen, obschon ein Marketingplan von unerlässlichem Vorteil ist. Insbesondere, wenn die Filme über die Grenzen unseres Landes oder des Koproduktionslandes hinaus gelangen sollen.
 

Sie haben den Ruf, ein spezielles Flair für Projekte zu haben. Was führt Sie jeweils dazu,  in ein bestimmtes Projekt zu investieren?

Mein Bauchgefühl, allerdings bin ich auch immer auf der Suche nach mir Unbekanntem und bemühe mich, guten Projekten Priorität einzuräumen … (lacht.) Mehr sage ich Ihnen nicht, sonst bin ich gezwungen, Sie anzu­stellen oder zu töten!
 

So weit muss es ja nicht kommen, doch Sie können mir sicher sagen, woran man einen viel versprechenden Film erkennt. Wie beurteilen Sie das Potenzial eines Projekts?

Ich will lachen, weinen, mitfühlen und mich unterhalten! Ich möchte mich nicht langweilen, sondern aufgewühlt werden, mich verlieben, den «Wow-Effekt» spüren. Was ich sicher nicht suche, ist ein Déjà-vu oder die Frage, was das Ganze überhaupt soll. Ich arbeite viel mit Emotionen und mit einem relativ engen Filter, der mir einen präzisen Blick auf die verschiedenen kreativen, menschlichen und finanziellen Aspekte und auf die Risiken ermöglicht.
 

Ich habe gelesen, dass Sie für die Beurteilung eines Films ein Evaluationsformular mit rund 50 Punkten besitzen. Stimmt das?

Ja, das stimmt. Doch benutze ich es auch? Nicht wirklich. Es nützt mir vor allem, wenn ich bei Projekten meine Zweifel habe, oder bei Vertragsverhandlungen. Ist der Eindruck aber negativ, brauche ich keine genaue Evaluation.
 

Wie beurteilen Sie die Qualität der Drehbücher in der Schweiz?

Sie ist nicht gut. Man nimmt sich zu wenig Zeit dafür, das ist das Problem. Sobald man Geld bekommt, entsteht ein Zeitdruck und man beginnt mit dem Drehen, um sich das Geld zu sichern. Kürzlich erhielt ich ein Projekt, in dem die Figuren nicht klar definiert waren und der dritte Akt noch gar nicht fertig war. Ich empfahl eine Überarbeitung. Doch man hatte keine Zeit, weil die Dreharbeiten unmittelbar bevorstanden. Beim leisesten Zweifel darf man nie zögern, nochmals zu überarbeiten.
 

Wie gut müssen Sie nebst dem Projekt auch den Regisseur kennen?

Ich arbeite in erster Linie mit Menschen, also muss ich mich zwangsläufig mit ihnen verstehen. Ist das nicht der Fall, dann wage ich den Schritt nicht. Xavier Dolan und ich brauchten fünf Jahre, bis wir die Gelegenheit zur Zusammenarbeit ergriffen und uns kennenlernten.
 

Sie investieren Ihr eigenes Geld in die Projekte, ist das nicht eher selten der Fall?

Viele Produzenten tun dies, indem sie sich mit ihrem Lohn beteiligen. Ich meinerseits tue das nur, um zu zeigen, dass ich Vertrauen habe und dass ich ein persönliches Risiko eingehe, denn wenn das Projekt misslingt, verdiene ich nicht nur nichts, sondern ich verliere sogar Geld. Ausserdem erhöht es meine Glaubwürdigkeit bei möglichen Privatinvestoren.
 

Sehen Sie sich in der Rolle eines Mäzens?

Ich engagiere mich als Philanthrop in mehreren Stiftungen, ich bin Mäzen, wenn ich einem Festival bei der Finanzierung eines neuen Projekts helfe, ich bin Investor, wenn ich Geld in ein Projekt stecke, doch ich sehe mich lediglich als einen kreativen und unabhängigen Produzenten. Ich interessiere mich für praktisch alles und bin fast immer mit dabei, wenn ich einen Mehrwert erhalte. Doch allein kreativ zu sein, nützt nichts, man muss gemeinsam kreativ sein.
 

Sie könnten doch in andere, lukrativere Bereiche investieren, zum Beispiel in Immo­bi­lien: weshalb gerade ins Filmschaffen?

Weil ich das nicht als Investition betrachte, schliesslich ist das mein Beruf. Und ich kann Sie beruhigen, ich investiere auch in lukrativere Bereiche (lacht).
 

Wie viel liegt Ihnen am wirtschaftlichen Erfolg eines Films?

Man macht ja keine Filme für sich oder für seine Familie. Die Filme sollen von so vielen Menschen wie möglich gesehen werden. Deshalb ist es wichtig, die gesteckten Ziele zu erreichen. Ansonsten soll man etwas anderes tun und das Filmemachen auf das Wochenende beschränken!
 

Wie wichtig sind für Sie die Oscars und Cannes?

Cannes ist weltweit das wichtigste Festival – mit seinem Markt, all den Verleihern, der internationalen Presse und den Programmgestaltern. Es ist eine einmalige Plattform für die Lancierung eines Projekts, sofern es gut aufgegleist ist und passt. Cannes kann einen Film wie «Ma vie de courgette» ins Rampenlicht stellen, Cannes kann aber auch Filme verschwinden lassen. Mit gewissen Filmen gehe ich nicht nach Cannes, sondern an andere A-Festivals. Was die Oscars betrifft, so sind sie eine Anerkennung auf der Weltbühne, ein Erfolg in Hollywood. Ist alles vorüber, kehrt man wieder in sein Land zurück.
 

Woher stammt Ihr Interesse für den Film? Waren Sie schon immer cinéphil?

Schon immer liebte ich Geschichten, und das ist das Wichtigste: schöne Geschichten. Ich hätte mich aber auch der Malerei, dem Theater, der Fotografie oder anderen kreativen Ausdrucksformen zuwenden können. In einigen habe ich mich versucht, bevor sich der Film ganz von selbst durchsetzte.

Bild: Michel Merkt (rechts) zählte zur diesjährigen Jury für die «Caméra d'or» am Filmfestival von Cannes. © Eliott Piermont / FDC

  Originaltext: Französisch

 

Preisverleihung
9. August, 21:30

Piazza Grande

 

Michel Merkt ist erst seit zehn Jahren  Produzent, weist aber bereits eine beein­druckende Filmografie vor. Er produzierte bisher in allen Kontinenten, unter anderem Werke von David Cronenberg, Kleber Mendonça Filho, Xavier Dolan, Davy Chou, ­Philippe Garrel sowie die internationalen Erfolge «Ma vie de Courgette» und «Toni Erdmann». Er kam 1972 in der Schweiz zur Welt, wuchs in Genf auf und lebt heute mit seiner Frau und seinen Kindern in Monaco. Nach einem Abstecher in die Juristerei absolvierte er eine Marketingausbildung und war unter anderem im Finanzbereich tätig, bevor er sich dem Film zuwandte. Er investiert jeweils eigenes Geld in die Filme, die er produziert. In der Schweiz arbeitet er regelmässig an Projekten von Akka-Films und Close-up-Films mit. Den Premio Raimondo Rezzonico haben schon  Paulo Branco, Menahem Golan und Office Kitano erhalten, sodass Michel Merkt nun zur Crème de la Crème der unabhängigen Produzenten gezählt werden darf.

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