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Wenn es beim Tennis geht, warum nicht beim Film ?


21. Juli 2017

Mit grossem Interesse habe ich im letzten Frame das umfangreiche Dossier gelesen, das sich mit Stand und Entwicklung des Schweizer Films auseinandersetzt. Ohne Umschweife und die übliche schweizerische Diplomatie bietet der Artikel eine pointierte und ziemlich provokante Analyse des Schweizer Films und seiner Schwäche auf der internationalen Bühne in den letzten 25 Jahren. Der Ausgangspunkt scheint mir besonders interessant, nämlich die Gegenüberstellung unserer Branche mit jener in Ländern vergleichbarer Grösse.

Als Filmjournalist und passionierter Zu­schauer habe ich mir auch schon die gleiche Frage gestellt: Wer ist der Godot, auf den wir seit langem warten? Warum hat Belgien die Brüder Dardenne hervorgebracht, Dänemark Lars von Trier, Österreich Michael Haneke, Finnland Aki Kaurismäki (und ihre jeweiligen Jünger), während bei uns, trotz fähigster Berufsleute, ein wirkliches Vorbild fehlt, ein Name mit Leitbildcharakter, jenes herausragende Talent, das wie einst Tanner, Goretta oder Daniel Schmid den Jungen Inspirationsquelle sein könnte. Kurzum: Wo ist der Federer des Schweizer Films?

Vergleich mit Schweden

In ihrer Analyse beobachtet die Zürcher Filmzeitschrift das ziemlich enttäuschende Resultat, das sich ergibt, wenn man die für die drei wichtigsten Festivals ausgewählten Filme betrachtet: Nur vier mehrheitlich schweizerische Produktionen kamen in die Wettbewerbe, es gab keine Palmen, Goldenen Löwen oder Bären. Ein Land wie Schweden – 9,9 Millionen Einwohner und mit jährlich 43 produzierten Filmen, verglichen mit durchschnittlich 83 Filmen in der Schweiz – hat dagegen soeben mit «The Square» von Ruben Östlund in Cannes gewonnen und triumphierte in Venedig vor drei Jahren mit «A pigeon sat on a branch reflecting on existence» von Roy Andersson.

Man kann dem entgegenhalten, dass es ja nicht nur ums Siegen geht, und ich bin damit ganz einverstanden: Preise und Ehrungen können nicht einziges Kriterium sein. Wenn aber in etwa 60 Festivalausgaben es nur vier Filme in den Wettbewerb schaffen, zeigt das ein wirkliches Problem unseres Films, über unsere Grenzen hinaus zu gelangen. Wir seien ein kleines Land mit vier Sprachen und die Filmkultur daher aufgesplittert, sagt man oft. Auch wenn dem so ist, stellt sich nach wie vor die Frage: Wer ist unser Godot?

Frame widmet sich dann den Fördermechanismen und in einem ziemlich polemischen Abschnitt Swiss Films, der Promotionsagentur für den Schweizer Film. Zitiert wird die Schweizer Regisseurin Ivana Lalovic, die in Stockholm lebt und das schwedische Modell preist: keine Kommissionen mit zu vielen Köpfen, keine Breitenförderung mit der Giesskanne, ein radikaler Geist bei der Auswahl, ein kreativer Kopf am Ruder usw. In diesem Bereich, das gebe ich zu, kenne ich mich zu wenig aus, um urteilen zu können.

Der «Wow»-Faktor

Es ist vielmehr das andere Argument, das mich beschäftigt. Der Artikel erörtert einen  entscheidenden Moment für das Gelingen eines Films (und ganz besonders kleiner Filme): die Phase des Schreibens. Auch wenn der Vergleich mit Hollywood brutal ist, wo etwa 90 Prozent der Drehbücher verworfen werden, wird bei uns die wichtige Lektion von Hitchcock (aber auch von Loach) in den Wind geschlagen, nicht alles selber zu machen. Man hat den Eindruck, zu viele Schweizer Regisseure wollten um jeden Preis Autoren ihrer Geschichten sein. Während doch (mit gewichtigen Ausnahmen, unter ihnen Petra Volpe) das Schreiben und das Drehen eines Films verschiedene Disziplinen sind. Ich sagte mir – nach der Analyse einiger neuerer Filme – dass der Aufsatz vielleicht den springenden Punkt trifft. Er verweist auf dasselbe Problem, das der Drehbuchautor Micha Lewinsky vor einigen Monaten an dieser Stelle ausgezeichnet dargestellt hat.

Der Schweizer Produzent Michel Merkt hat es mir neulich in Cannes so anvertraut: «Wenn ich beim Lesen eines Stoffes den Eindruck habe, das schon einmal gesehen zu haben, lege ich das Projekt zur Seite.» Es geht um den «Wow»-Faktor, wie man das im Showbiz nennt. Man könnte das einfach mit Stil übersetzen. Liegt darin das Beckettsche Wesen, auf das wir warten? Ich weiss es nicht, habe aber zwei konkrete Hoffnungen. In meiner neuen Rolle als Delegierter ür die Locarneser Semaine de la critique habe ich in den vergangenen Monaten an die 200 Dokumentarfilme gesehen, darunter zwischen 35 und 40 aus der Schweiz .

Hier steht unser Filmschaffen auf Augenhöhe im internationalen Umfeld – man sagt das immer wieder und die Auswahlkommission der Semaine de la critique kann es nur bestätigen.

Um aber zum Schluss wieder auf den Spielfilm zurückzukommen: Der Artikel in Frame hat es versäumt, zu erinnern, dass vor 40 Jahren Schweden im Tennis an der Weltspitze stand: mit Borg, Wilander, Edberg, Järryd, Nyström, Svensson, Pernfors. Heute fällt es schwer, einen Schweden in der ATP-Klassierung auszumachen. Elias Ymer ist gerade mal Nummer 242. Wenn es der Schweiz heute gelingt, im Tennis den Ton anzugeben, warum sollte das nicht, sagen wir im Jahr 2040, im Film möglich sein? Wenn es ihn dann noch gibt, würde Marco Müller anfügen. Es braucht eben Mut, Anspruch und – wie man im Italienischen sagt – «un po’ di fondoschiena».

Marco Zucchi,  Journalist bei RSI und Delegierter der Semaine de la critique in Locarno

  Originaltext: Französisch

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