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Fragen an Stéphane Mitchell, Drehbuchautorin und Regisseurin


16. Juni 2017

Ist das Label nützlich für Sie?
Ja, das ist es. Es wird mich zwar nicht davon abhalten, Filme zu schauen, die das Label nicht bekommen haben, aber ich werde besser informiert sein. Lassen Sie es uns klar sagen: Ins Kino zu gehen, kann natürlich nicht zur karitativen Geste werden. Dieses Label wird dabei helfen, eigene Vorurteile F-Filmen gegenüber oder deren mangelnde Bewerbung wahrzunehmen, es wird das System dahinter, vor allem aber Filme beleuchten.

Führt es nicht dazu, Filme künstlich einzuteilen?
Ähnlich dem Vorspann vor Schweizer Filmen geht es weder um ein Qualitäts- noch ein Stil- oder gar um ein Inhaltslabel. Es geht auch nicht darum, damit einen feministischen oder politisch korrekten Inhalt zu garantieren. Und das ist gut so! Dieses Label ist eine politische Geste, die besagt: In unserer Branche wie überall auf der Welt ist der Standpunkt der Frauen marginalisiert, und das, obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung stellen. Wir müssen das System in Bewegung bringen, also die Mentalitäten derer, die Filme finanzieren, auswählen, auszeichnen, machen, zeigen oder anschauen.

Was antwortet man denen, die behaupten, Qualität sei keine Frage von Gender?
Man zitiert Viola Davis: «Es mangelt nicht an Talent, sondern an Möglichkeiten». Dieses Label wird von diesem Mangel an Möglichkeiten zeugen: Welche Förderung, welcher Verleih, welches Budget und welche production values existieren für F-Filme? Abgesehen von «Wonder Woman» kann man nicht behaupten, F-Filme seien tatsächlich extrem gut finanziert, beworben und verliehen. Hier sieht man den Wald vor lauter Bäume nicht!

Was halten Sie vom Bedenken, dies würde zu einer stereotypen Rollenfestlegung von Fraue­n­arbeit führen?
Frauen sind nach wie vor «das andere Geschlecht». Insofern führt es zwingend dazu, dass der Film eines Mannes ein Film ist, während der Film einer Frau ein Frauenfilm ist. Diese Realität zu ignorieren und zu sagen «Ich will Filmemacherin sein, keine filmemachende Frau», ist absolut nachvollziehbar, bedeutet aber zu verleugnen, dass das System patriarchalisch ist. Ich bevorzuge es, nach Lösungen, Werkzeugen und Herangehensweisen zu suchen, die vielleicht eines Tages dazu führen, dass eine Filmemacherin ein Filmemacherin sein wird, unabhängig von ihrem Ursprung, der sexuellen Orientierung, von Gender. Ich bin aber nicht blauäugig. Menschen mögen Schubläden…

Was soll man von den Kriterien halten, die für die Labelauszeichnung erforderlich sind?
Ich kann Leute verstehen, die sagen, die Kunst habe nicht eine soziologische oder kulturwissenschaftliche Abhandlung zu sein. Sich Filme wie eine Soziologin oder Ethnologin anzuschauen, ist mühsam. Wir wollen Künstlern begegnen, Geschichten folgen, nicht jedoch eine idealisierte Welt auf dem Bildschirm sehen oder die Probleme der Welt lösen. Ein sterilisiertes Kino bar sozialer Wirklichkeiten wird entweder fade oder propagandistisch. 
Wonach wir jedoch dürsten sind neue Geschichten, originelle Sichtweisen. F-Filme haben da ein enormes Potential. Von Frauen geschriebene, von Frauen realisierte Filme mit weiblichen Protagonisten werden uns sicherlich noch ungesehene, weil so selten gezeigte Geschichten und Sichtweisen liefern. Darauf sollten wir uns freuen!

▶  Originaltext: Französisch

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