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Kleider formen Figuren

Andreas Furler
19. Juni 2021

Linda Harper – Kostümbildnerin (© zvg)

In Linda Harpers Atelier im Berner Kulturzentrum Progr hängen derzeit Dutzende von Vestons, Gilets, Kleidern und Hosen, wie man sie im späten 19. Jahrhundert getragen hat. Es sind die Kostüme für «Unrueh», den neuen Film von Cyril Schäublin («Dene, wos guet geit»), der in der Jurassischen Uhrenindustrie von 1877 angesiedelt ist und ab Juni gedreht wird. Linda Harper hat bis zu diesem Zeitpunkt schon monatelange Vorarbeit geleistet, sich in die Ära vertieft, im Internet und in Büchern Zeitzeugnisse gesammelt, Kostümfunde im In- und Ausland aufgesucht. Dabei ist sie auch an Grenzen des Recherchierbaren gestossen, denn die damaligen Porträtfotografien verraten nichts über die Farben jener Zeit und zeigen die Leute auch immer nur in ihren besten Kleidern. Gemälde bis hin zum Kubismus waren deshalb eine genau so wichtige Inspirationsquelle für das Kostümbild dieses Films. 

«Unrueh» ist ungefähr der fünfzigste Film, zu dem Linda Harper die Kostüme macht. Für die Schweizer Filmszene war es denn keine Überraschung, als die Kostümbildnerin im vergangenen März den Spezialpreis der Film­akademie gewann. Die Bernerin hat auf Filmen wie «Die göttliche Ordnung», «Stations­piraten», «Dr Goalie bin ig» oder «Cure» gearbeitet. Die Filmakademie, die sie für Ihre Arbeit an «Platzspitzbaby», «Von Fischen und Menschen» und «Spagat» würdigte, schreibt:  «Linda Harper schafft Kostüme, die eine Absicht haben, aber niemals übertreiben. (...) Sie arbeitet diskret und originell und stellt sich der ästhetischen Herausforderung des Gewöhnlichen oder gar Hässlichen.» Diese letzte Aussage ist Linda Harper besonders wichtig, weil sie sich mit einer Devise ihres Lieblings-Designers Alexander McQueen deckt: «Wie die meisten Künstler finde ich Schönheit im Grotesken.»

 

Im Dienst der Geschichte

Doch wie kam die gelernte Damenschneiderin überhaupt zu ihrem Metier? Dazu muss man zurückgehen in das Berlin der frühen 1990er Jahre, wo Linda Harper erste eigene Kollektionen präsentierte, mit denen sie auch auf Modeschauen, Messen und in den Medien präsent war. In diesem Zusammenhang kam eine erste Anfrage, ob sie nicht die Kostüme für einen Videoclip machen wolle. Es folgten weitere Clips und ein erster Film und damit die Lust, sich in den Dienst einer Geschichte zu stellen. Diese Lust ist es, die sie bis heute umtreibt: «Ich möchte, dass das Publikum eintauchen kann in eine Geschichte. Je subtiler ich dabei bin, umso mehr bringt es die Figur mit dem Maskenbild und der Ausstattung in Einklang. Die Leute sollen sich nicht fragen, was die Figur da im Hintergrund für ein auffälliges rotes Teil trägt. Deshalb arbeite ich gern an Details, die das Publikum vielleicht gar nicht alle wahrnimmt. Dem Schauspieler aber helfen sie bei Verkörperung der Figur.»

Ein Bespiel für diese subtile Kunst ist das Marienkäfer-Unterhemd, das Mia, die Tochter in «Platzspitzbaby», fast den ganzen Film hindurch trägt. Das Publikum sieht es kaum, doch Linda Harper definierte mit der jungen Darstellerin Luna Mwezi, dass dieses Unterhemd vielleicht ein Geschenk von Mias Junkie-Mutter aus besseren Zeiten sei und ihr darum Kraft gibt. Ein ähnlich subtile Mutter-Tochter-Verbindung entsteht im aktuellen Kinospielfilm «Von Fischen und Menschen» über das identische Blau, das Mutter und Tochter zeitweilig tragen.

 

Schlüsselmoment Anprobe

Erarbeitet werden solche Subtilitäten gemeinsam mit den DarstellerInnen in den sogenannten Fittings oder Anproben, bei denen idealerweise auch die Regie dabei ist. Hier wird getestet, wie sich die Kostümideen mit den Darstellerinnen und Darstellern vertragen, was konzeptionell und physisch passt, was zu wenig oder zu viel ist. Dabei werde auch das Bild der Figuren geschärft, sagt Linda Harper. Leider  fehle für diesen kreativen Prozess allerdings immer öfter die Zeit. 

Umso dankbarer zeigt sich Rachel Braunschweig, in «Die göttliche Ordnung» die Schwägerin der Heldin, für das geduldige Fitting bei diesem Film: «Es war einmalig, soviel Zeit für das Kostümbild meiner Figur geschenkt zu bekommen. Mit jedem einzelnen Kostümteil, das Linda und ihr Team mit einer unglaublichen Sorgfalt und Liebe fürs Detail zusammengestellt hatten, wurde meine Figur für mich sichtbarer und ich verwandelte mich in eine mir bis anhin noch sehr unbekannte Person.»

«Meine Aufgabe», sagt Linda Harper, «ist es, die Vision der Regie im Kostümbild künstlerisch umzusetzen und dafür zu sorgen, dass sich die SchauspielerInnen wohl fühlen. Bei einem Kostümfilm wie ‹Unrueh› stöhnen natürlich alle über die schweren Röcke und die steifen Hemdkragen. Doch haben die Kleider Schichten, so  sind das auch Schichten der Figur, und sie gewinnt damit an Tiefe.» Die DarstellerInnen von «Unrueh» sind übrigens fast alle Laien, die ihre Rollen ein Stück weit aus dem Moment heraus gestalten. Für Linda Harper wieder eine völlig neue Situation und eine Reise ins Unbekannte – genau das, was sie an ihrer Arbeit so liebt. 

 

▶  Originaltext: Deutsch

 

 

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