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Kinder zuerst!

Pascaline Sordet
11. Februar 2021

Kulturvermittlung ist inzwischen unverzichtbar, wenn es darum geht, neue Zuschauer zu gewinnen und die Jungen fürs Kino zu sensibilisieren. Beispielhaft dafür: das Internationale Filmfestival Freiburg.

Auch in diesem Jahr wird das Internationale Filmfestival Freiburg nicht wie geplant im März stattfinden. Ende Januar 2021 traf die Nachricht aus Freiburg ein, dass das Festival, schon 2020 unter den ersten, die aufgrund der Anti-Covid-Massnahmen absagen mussten, auf einen Termin im Sommer verlegt wird. Doch nicht alles ist auf schönere Zeiten vertagt. Zumindest ein Teil soll wie geplant im März stattfinden: die Programmschiene für Kinder und Jugendliche. «Momentan sind die Schulen die einzigen Orte in der Schweiz, in denen Kultur stattfinden darf», sagt Thierry Jobin, der künstlerische Leiter, zur Erklärung. Um die Gesundheit aller zu gewährleisten, werden die Vorführungen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Schulen geplant.

Die «Scolaires», wie die Schulvorführungen genannt werden, sind praktisch so alt wie das Festival. 2020 fiel der Entscheid zur Absage aufgrund fehlender Realisierungsmöglichkeiten und direkt vor der Schliessung der Schulen. «Da hat keiner lange darüber nachgedacht. Doch während wir noch tagten, planten alle Festivalleitungen bereits für die weitere Zukunft, und wir waren die einzigen, die nicht nur online gehen wollten», erklärt Geschäftsführer Philippe Clivaz. Die Schulvorführungen sind ja auch alles andere als ein Randphänomen in Freiburg, sie machen ein Viertel des Zulaufs aus. «Während der Sommermonate hatten wir schon 5ʼ000 Anmeldungen», präzisiert der künstlerische Leiter Thierry Jobin. Weihnachten, auf dem Höhepunkt der Pandemie, waren es schon 9ʼ000. «Die Lehrer nehmen die Vorführungen in ihren Stundenplan auf, ohne überhaupt die Filme gesehen zu haben», ergänzt Philipe Clivaz. Heisst das, es sind gar nicht so sehr die Filme selbst, die für die Schulen von Interesse sind? «Es handelt sich um einen Vertrauensbeweis», stellt Thierry Jobin klar. «Letztlich geht es ja nicht um eine einzelne Aufführung oder einen bestimmten Film. Mindestens ebenso stark sind die Schulen an unserem kulturellen Vermittlungsteam interessiert, das die Lehrer unterstützt, sowie an dem zur Verfügung gestellten pädagogischen Material». Solche Angebote kennt man von anderen Festivals oder Veranstaltern wie Cinéculture oder e-media.

Wo liegen die Gründe für den Erfolg des Freiburger Schulprogramms? In einer Stadt mittlerer Grösse, mit dem FIFF als einzigem Filmfestival, «sind wir ein wichtiger Teil des kulturellen Lebens», erklärt Philippe Clivaz. Ausserdem «sind zwei Generationen heutiger Erwachsener in Freiburg mit den ‹scolaires› gross geworden», gibt Thierry Jobin zu bedenken. «Das Publikum hat eine Art kinematographischer Bildung durchlaufen, und zwar nicht nur bezüglich des Inhalts, sondern auch der Gestaltung». Ein entscheidender Faktor dabei ist die Langlebigkeit des Programmteils, und darauf ist Delphine Niederberger, Beauftragte für die kulturelle Vermittlung, besonders stolz.

 

Filme als Kunstwerke

Rund fünfzehn Personen arbeiten unter Delphine Niederbergers Leitung daran, die Schüler zu begrüssen, die Filme zu zeigen und einen Austausch darüber anzuregen, direkt im Kinosaal oder anschliessend im Klassenzimmer. «Ich erinnere mich an einen Film, der von drei Jugendlichen handelte, die auf ihrem Rückweg in die USA quer durch Mexiko reisen, und in einem bestimmten Moment kommt dem Trio das Mädchen abhanden, ohne dass man erfährt, was mit ihm passiert ist. Wir hatten eigentlich gar nicht darüber sprechen wollen, aber das hat die Schüler nun mal beschäftigt, sie wollten unbedingt wissen, was da los ist. Sie kleben oft sehr an der Geschichte, so sehr, dass man die Fiktionalität in Erinnerung rufen muss». Mit anderen Worten: Die Annäherung an den Film erfolgt nicht nur thematisch. Filme dienen uns nicht zur Vermittlung eines Sujets, sie werden in ihrer Gesamtheit als Kunstwerke behandelt. Ein weiteres Beispiel: «Vor zwei Jahren haben wir einen kenianischen Film gezeigt, ‹Supa Mondo›. Er handelt von einem todkranken Mädchen, dessen Schwester es in dem Glauben bestärkt, es habe Superkräfte. Die Darstellung dieser Superkräfte in einem Low-Budget-Film, vor einem Publikum, das die Produktionen von Marvel gewohnt ist, gab uns die Chance, die verschiedenen Filmtypen zu vergleichen und so auch die finanziellen Aspekte des Kinos anzusprechen. Eine neuartige Erfahrung für mich im Rahmen der Schule.»

Das Programm für die Schulen teilt sich in zwei Gruppen: die Primarstufe auf der einen, die Sekundarstufe und höheren Schulen auf der anderen. Für erstere werden die Filme eigens ausgewählt, für letztere werden Filme aus dem allgemeinen Programm eingesetzt. Alle Filme sind mit einem pädagogischen Zusatzprogramm versehen. Gibt es einen Punkt, ab dem diese Interventionen über die thematischen Aspekte eines Films hinausgehen und sich dem nähern, was Kino ausmacht: seine Formsprache, seine Möglichkeiten und Grenzen? Was verstehen Kinder vom Film als Kulturtechnik? «Man unterschätzt sie leicht», versichert Delphine Niederberger. «Es handelt sich um eine Generation, die von Bildern umgeben ist. Aus ihrer täglichen Erfahrung heraus bringen sie ein ganz gutes Verständnis dafür mit, wie Bilder inszeniert werden, und dass ein Film nicht einfach die Wirklichkeit zeigt.

 

Hin zur Teilhabe

Die Vermittlung beschränkt sich nicht auf Vorführung und Diskussion, sie geht zunehmend in Richtung Teilhabe. In diesem Jahr ist ein Projekt mit drei deutschsprachigen Schulklassen des Kantons im Gang, die sich im Rahmen ihres Musikunterrichts an die Neufassung der Tonspur eines Kurzfilms heranwagen, als Ergebnis einer Unterrichtseinheit zum Thema Musik. «Eine praktische Anwendung», erklärt Delphine Niederberger, «sie sind nicht einfach Zuschauer, sondern setzen sich mit dem Film als Medium auseinander, seinen verschiedenen Facetten, wobei das Interesse nicht ausschliesslich der Tongestaltung gilt.» Teilhabe lässt sich auch mithilfe bewährter Mittel verwirklichen, und das nicht nur in Freiburg: Die Berufung von Jugendjurys erlaubt es zunehmend, die entsprechende Altersklasse zu Wort kommen zu lassen und ihre Meinung zu hören.

Die Vermittlungsarbeit richtet sich aber auch an Erwachsene. In diesem Jahr war das Votum des Publikums bei der Auswahl der ersten fünf von 50 Musicals gefragt. Bei einer Beteiligung von 326 Personen ging «Pink Floyd: The Wall» als grosser Sieger aus der Abstimmung hervor. «Freiburg ist eine kleine Stadt», sagt Thierry Jobin zur Entstehung des Projekts. «Wenn man hier lebt, ist man der Bevölkerung verpflichtet. Als Liebhaber von Cartes Blanches habe ich mir gesagt: Was, wenn das Publikum ein Programm gestaltet? Wir haben dann eine ganz einfache Lösung gefunden, dank der Sektion Genrekino, bei der das Publikum die Wahl zwischen Klassikern hat, was sich viel leichter organisieren lässt als im Fall von Premieren». Die fünf Filme werden von je einem Duo aus Leuten beider Kantonssprachen vorgestellt. Diese zehn Leute erhalten für das ganze Festival einen Mitarbeiterpass – noch eine Art, das Publikum hinter den Kulissen einzuweihen, in die inneren Abläufe im Herzen des Festivals.

Diese geduldige Art, sich ein Publikum zu bilden, hat auch eine ökonomische Seite: Kundenbindung einerseits und Erneuerung andererseits sind für jedes Kulturunternehmen essenziell. «Natürlich denken wir dabei auch an unsere eigene Zukunft», gibt Philipe Clivaz offen zu. Kulturvermittlerin Delphine Niederberger differenziert: «Der Erfolg eines Projekts bemisst sich nicht so sehr an der Zahl der Beteiligten als an seiner Qualität».

▶  Originaltext: Französisch

 

 

Visions du Réel: das ganze Jahr über Kino im Unterricht

Im November hat das Dokumentarfilmfestival von Nyon eine Streaming-Plattform lanciert, die sich speziell an Schulen richtet: Visions du Réel at School. Dort findet sich eine Auswahl während der vergangenen Jahre in Nyon gezeigter Dokumentarfilme neben Unterrichtsmaterialien. Das Programm ist dazu gedacht, die bereits während des Festivals stattfindende pädagogische Arbeit über das gesamte Schuljahr zu verlängern und zu verstärken.

Ein Pilotangebot von dreissig Titeln gilt zunächst für Schulen in der französischsprachigen Schweiz und wird monatlich um neue Filme erweitert. Schweizer Filme wie «Madame» von Stéphane Riethauser sind Teil des Katalogs. Später soll das Angebot auf Schulen in der gesamten Schweiz ausgeweitet werden, mit deutsch- oder italienischsprachigen Filmen oder Untertiteln in beiden Sprachen, gleich ab dem diesjährigen Schulbeginn.

Um den Lehrkräften die Arbeit zu erleichtern, sind die Filme nach Altersklassen geordnet, aber auch nach Sparten wie «Visuelle Künste» oder «Medienerziehung», die einem Vermitteln der Dokumentarfilme unter formalen Aspekten entgegenkommen. 

 

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