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Im Grenzgebiet von Film und Kunst


20. September 2016

Experimentelle, formal ungewöhnliche Filme werden auch in Galerien und Museen gezeigt. Umgekehrt können Kinos und Filmfestivals für längere filmische Arbeiten von Künstlern ­interessante Platt­formen darstellen. 

Von Pascaline Sordet

Expanded Cinema, Drittes Kino, Post Cinema, Film-Installation: Es fehlt nicht an Konzepten, die zu benennen versuchen, was entsteht, wenn sich Regisseure mit der zeitgenössischen Kunst auseinandersetzen und – umgekehrt – wenn Kunstschaffende mit bewegten Bildern arbeiten. Die Praxis ist wenig verbreitet und eröffnet doch neue, interessante Möglichkeiten, ein neues Publikum und manchmal finanzielle Mittel zu gewinnen.
 

Interesse an Diskussionen zum Thema

Das Filmfestival Locarno und Art Basel spannen nun zusammen und planen gemeinsame Programme, die diese Art kinematografischer Objekte präsentieren sollen; das FID Marseille unterstützt seit langem eigenständige filmische Handschriften, und der Markt von Visions du Réel organisiert seit mehreren Jahren den runden Tisch Doc & Art. Für Andrea Bellini, den Direktor des Centre d’art contemporain in Genf, sind die Gemeinsamkeiten offensichtlich: «Viele Künstler interessieren sich stark für den Film oder haben  die filmische Sprache der Regisseure übernommen. Künstler wie Pierre Huygue, Philippe Parreno oder Dominique Gonzalez-Foerster haben sich Elemente des Kinos auf fast kannibalische Weise einverleibt.» Ausserdem ermöglichen die technischen Neuerungen den Künstlern, mit filmsprachlichen Mitteln zu arbeiten, ohne über eine komplexe und teure Infrastruktur verfügen zu müssen. Umgekehrt interessieren sich die Kulturinstitutionen für die Arbeit der Filmschaffenden. So hat das Centre d’art contemporain in Genf die «Biennale de l'image en mouvement» wiederbelebt. Die Kultur­institution richtet den Fokus auf den Videofilm und hat einige Regisseure eingeladen, ihre In­­stallationen zu zeigen.

Diese Durchlässigkeit stosse beim Publikum und in der Branche auf Interesse, sagt Emilie Bujès. Die ausgebildete Kunsthistorikerin und Kuratorin für bewegte Bilder («l’image en mouvement») ist Mitglied der Auswahlkommission von Visions du Réel und hat am letzten Festival den runden Tisch Doc & Art moderiert: «Es kommen immer mehr Leute, und sie bleiben auch an Diskussionen, das weist auf ein echtes Interesse hin. Die Produktionsfirmen und die zeitgenössischen Kunstmuseen befassen sich mit Objekten, die ursprünglich nicht in ihr Ressort fielen: erstere für Filme von Künstlern, letztere für (Lang-)Filme, die aus dem Kinokontext stammen», erklärt Emilie Bujès.

Neue Stimmen in die Filmwelt zu integrieren ist gewöhnlich kein Problem, da die Festivals offen zur Teilnahme einladen; umgekehrt ist es etwas komplizierter, sagt die Kuratorin: «Die zeitgenössische Kunst ist bei weitem nicht so demokratisch wie der Film.»
 

Unrealistische Hoffnungen

Von Projekten, die die Grenze zwischen Kunst und Film überbrücken , erhofft man sich eine Verdoppelung der Finanzierungsmöglichkeiten. Emilie Bujès meint dazu lächelnd: «Die Kunstschaffenden meinen, dass sie im Filmbereich Geld finden werden, umgekehrt hoffen Filmproduzenten, dass Sammler oder Institutionen ihnen neue Finanzierungsquellen erschliessen werden, was unrealistisch ist.»

Sicher ist nur, dass «sich beide Arbeitsbereiche nicht gegenseitig ausschliessen, obwohl sich die Märkte unterscheiden», sagt Andrea Bellini. Und diese Unterschiede sind fürs Entstehen bestimmter Projekte nötig. Ein Künstler wie Yuri Ancarani, dessen Film «The Challenge» in Locarno vorgestellt worden ist und auch an der Genfer Biennale zu sehen ist, «hätte ausserhalb des Kunstbetriebs wirtschaftlich keine Chance», sagt der Direktor des Centre d’art. «Er kann das, was er macht, nicht ausschliesslich im Filmbusiness machen, er würde seine Arbeit nicht verbreiten können. Er braucht den Kunstbetrieb, der andere Projekte ermöglicht.» Die Vorteile liegen auf beiden Seiten. Einem Regisseur, der komplexe Objekte verwirklicht, die ausserhalb der Festivals kaum eine Verwertungsmöglichkeit haben, würde schon der Verkauf von fünf signierten Kopien erlauben, den nächsten Film aufzugleisen. Andrea Bellini sagt augenzwinkernd: «Für experimentelle Regisseure ist es manchmal einfacher, den Zugang zum Markt für zeitgenössische Kunst zu finden, als im herkömmlichen Filmbetrieb Geld zu verdienen. Niemand hat Lust, sich in einem Kinosaal eine 30-sekündige Produktion in einer Endlosschlaufe anzuschauen.»

Doch ist ein Sammler, der ein Objekt einer nummerierten Serie kauft und viel Geld dafür ausgibt, einverstanden, wenn der Film anschliessend breit vertrieben wird? «Es kommt immer auf das einzelne Werk an, auf dessen Entstehung und auf die Dynamik, die sich entwickelt», präzisiert Andrea Bellini. «Für den Sammler ist es wichtig, das Objekt einer nummerierten Serie mit seinem Echtheitszertifikat zu besitzen. Wenn keine neue, signierte Edition veröffentlicht wird, behält das Objekt seinen Marktwert. Ob es dann ins Kino kommt, an der Biennale oder sonstwo zu sehen ist, spielt keine Rolle.» Das könnte seinen Wert sogar noch erhöhen.
 

Ein neues Publikum erschliessen

Neben dem finanziellen Aspekt kann die Produktion eines Films ausserhalb des Filmmarktes den Regisseuren ein neues Publikum erschliessen, das ihnen möglicherweise sogar besser entspricht. Ein Kurzfilm wie «Soltar» von Jenna Hasse, dessen Sichtbarkeit stark mit seiner Festivalkarriere zusammenhängt, wird an der Biennale in Genf und im Palazzo Grassi der Pinault-Stiftung in Venedig gezeigt; dank dieser alternativen Verbreitung werden auch Besucher angesprochen, die vielleicht keine Festivalgänger sind. Und umgekehrt: Die Kunstschaffenden, die den Weg in die Kinos finden, erhalten mehr Aufmerksamkeit, insbesondere wenn eine Kulturinstitution ihr eigenes Kino besitzt, wie das in Genf der Fall ist.

Emilie Bujès ist überzeugt, dass man sich Gedanken zur Art der Vermittlung bewegter Bilder machen sollte: «Es ist für einen Film schwierig, in einem Kunstkontext angemessene Beachtung zu finden. Die Besucher einer Ausstellung kommen mit der Erwartung, einen mehr oder weniger schnellen Rundgang zu machen und den Raum bald wieder zu verlassen, was für ein längeres Filmformat ungeeignet ist.» Die Statistiken zeigen, jedenfalls im Fall der Malerei, dass Museumsbesucher sich ein Werk im Schnitt nur fünfzehn Sekunden lang ansehen. Die Künstler sind sich dessen bewusst und, so Bujès, «berücksichtigen das beim Format der Präsentation, solange es sich nicht um eine Installation handelt, die zum Beispiel nicht-filmische Elemente einschliesst». Ausserdem kennt der Kinosaal gewöhnlich einen Zeitplan, der die Filmlänge berücksichtigt», das erleichtert, sich den ganzen Film anzusehen.

Was auch immer die strategischen Interessen der beiden Universen sein mögen: Alle sind sich einig, dass die Qualität der Filme entscheidend ist. Auch wenn sich die Ausdrucksformen unterscheiden, bereichern sie sich oft gegenseitig, ohne sich zu konkurrenzieren. 
 

Hauptsache, die Filme interessieren

«Meiner Ansicht nach bewegen sich die Künstler und Regisseure in dieser Hybridkultur sehr gut. Da gibt es keine Probleme, nicht einmal ansatzweise», sagt Andrea Bellini. «Ich verstehe, dass man sich solche Fragen stellt», fügt Emilie Bujès hinzu, «aber sind sie wirklich nötig? Die Filme von Künstlern waren lange Zeit schwer zugänglich, und ich finde es ganz einfach wichtig, dass die Leute sie sehen können. Letztlich interessiert mich ein Film einfach, oder eben nicht.» Woher ein Film kommt, spielt für die Kuratorin keine Rolle: «Die Frage erinnert mich an die unproduktive Debatte rund um den Spiel- und Dokumentarfilm. Hauptsache ist doch, dass sich das Publikum interessiert, berührt oder angesprochen wird.» Es für Neues zu gewinnen, geht aber nur, wenn dennoch gewisse Erwartungen erfüllt werden, denn jedes Festival hat seine Geschichte, seine Identität und sein Publikum, das zwar bereit ist, seine Komfortzone zu verlassen, aber vom Programm trotzdem angesprochen werden möchte.

Hinter den Kulissen sehen sich die Kultur­institutionen und die Filmwelt in ihrer Zusammenarbeit mit einer terminologischen Frage konfrontiert. Ein Detail, gewiss, das aber in Anbetracht der Auswirkungen entscheidend sein kann. Ein Produzent zeitgenössischer Kunst, der ein Werk in Auftrag gibt, nennt sich zwar Produzent wie einer im Filmbereich, doch sie haben ganz unterschiedliche Verantwortlichkeiten und Ansprüche.  
 

Die Budgetfrage

«Im musealen Kontext produzierte Kunstwerke verfügen über ein völlig anderes Budget als Kinofilme», erklärt David Fonjallaz, Produzent bei Lomotion in Bern und Koproduzent von «Spira Mirabilis». Der Film der Dokumentarfilmer Massimo D’Anolfi und Martina Parenti wird an der Mostra in Venedig in einem traditionellen Festivalkontext gezeigt, hat aber eine Finanzspritze der Genfer «Biennale de l'image en mouvement» erhalten. «Wir sind sehr froh, dass sich das Centre d’art für den Film interessiert», sagt der Produzent, «obwohl es sich nicht um Koproduzenten im engeren Sinne handelt, denn das wäre merkwürdig für die anderen Koproduzenten wie RAI Cinéma oder die SRG.» 

Andrea Bellini pflichtet ihm bei und weist darauf hin, dass er hin und wieder Klarheit schaffen musste: «Wir sind keine Film-Koproduzenten, denn das würde unter anderem bedeuten, dass wir einen Prozentsatz der Erträge beanspruchen. Das ist keineswegs meine Absicht.» Im Fall von «Spira Mirabilis» wurde das Centre d’art auf die gleiche Stufe gestellt wie die Subventionsgeber BAK und die Region Bern.
 

Wer zeigt den Film?

Sind die Rollen einmal aufgeteilt, gilt es zu entscheiden, wer den Film in welcher Reihenfolge und wie auswertet. Emilie Bujès äussert sich in Bezug auf Visions du Réel relativ klar, zumindest was die Wettbewerbe angeht: «Wir zeigen keinen Film, der schon an der Biennale präsentiert wurde. Das ist zwar kein Filmfestival, doch die Einzugsbereiche überschneiden sich. Die Idee dahinter ist, dass Premieren an Festivals gehören – es sind Orte der Ent­deckungen. «Es scheint mir sinnvoller, dass die Künstler zuerst den Weg über die Festivals einschlagen, bevor sie ihre Werke in Insti­tutionen zeigen, wo die Probleme anders liegen.» Die Sache ist einfach, wenn sich der Künstler keiner Galerie verpflichtet hat. Aber bei Koproduktionen zwischen der Biennale für bewegte Bilder und Filmproduzenten ist die Lage komplizierter. Der Berner Produzent David Fonjallaz sagt, alles sei rund gelaufen, doch für die Filmauswertung müssten Lösungen gesucht werden. «Wurde ein Film zum Beispiel während vier Monaten in einer Genfer Kunstinstitution gezeigt, ist  die Auswertung in den Kinosälen im Frühling nach der Festivalpremiere schwierig.» Die verschiedenen Akteure seien noch am Aushandeln einer Lösung, die allen passt.

Andrea Bellini ist pragmatisch, was die hybriden Objekte betrifft: «Ich bemühe mich, beim Aufgleisen eines Projekts möglichst klar zu sein, anschliessend bin ich undogmatisch. Ich habe versucht, praktisch zu sein wie ein Schweizer.» Die an der Biennale präsentierten Kunstwerke wurden noch nicht öffentlich gezeigt, doch im Fall von Yuri Ancarani, der seit langem an ‹The Challenge› arbeitet – mit minoritärer finanzieller Beteiligung des Centre d’art – wäre es arrogant und töricht gewesen, die Premiere in Genf statt in Locarno zu erzwingen.» Er freut sich auch, dass Massimo D’Anolfi und Martina Parenti ihren Film in Venedig, an einem Filmfestival, zeigen, weil «die Arbeit für dieses Umfeld geschaffen ist. Ich möchte nicht das verwöhnte Kind spielen und verlangen, das Werk vor allen anderen in Genf vorführen zu dürfen. Das würde von einem Mangel an Intelligenz und Feingefühl zeugen.» Die Schweizer Premiere ist nun Gegenstand von Verhandlungen. David Fonjallaz erhofft sich eine Erstvorführung an einem Festival wie Visions du Réel oder an den Solothurner Filmtagen.

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