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Der Standpunkt von Guy Lodge


20. September 2016

Welche Erfahrungen haben Sie mit ­Schweizer Filmen gemacht?
Ich denke, dass ich in diesem Bereich noch stets dazulerne. Mein hauptsächlicher Zugang zum Schweizer Film sind die Filmfestivals, ein Gebiet das ich seit 2009 abdecke. Leider wird in meiner Heimat Grossbritannien nur ein kleiner Teil der Schweizer Filme vertrieben, die an den Festivals gezeigt werden. Es gibt deshalb viele aktuelle und ältere Filme, die ich noch nicht gesehen habe.

Wie oft haben Sie Gelegenheit, in Variety oder andernorts über Schweizer Filme zu schreiben? 
Der grösste Fokus auf Schweizer Filme liegt bei Variety wohl in der jährlichen Berichterstattung über Locarno, doch wenn ein Schweizer Film an einem anderen Festival erfolgreich ist, berichten wir natürlich auch darüber. Es ist immer schwer vorauszusagen, welche Filme den Durchbruch schaffen und wo.

Halten Sie die nationale Herkunft eines Films für wichtig?
Ja und nein. Einerseits globalisiert sich die Filmindustrie zunehmend und ist auf grenzüberschreitende Finanzquellen und Talent­austausch angewiesen, um die bestmöglichen Filme zu produzieren. Diese gemischte Identität von Filmen kann durchaus positiv sein. Doch vieles spricht auch für Filme, welche die Kultur ihres Herkunftslandes widerspiegeln. In einer von Hollywood dominierten Industrie können sich Independent-Filme durch eine spezifische nationale und kulturelle Identität vom Mainstream abheben. Dennoch hat jeder grosse Filmemacher seine eigene kreative Identität, die seine Nationalität nicht gezwungenermassen zum Ausdruck bringt.

Kann man den Schweizer Film trotz seiner Sprachgrenzen als Ganzes betrachten?
Ja, durchaus. Die Mehrsprachigkeit der Schweiz ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer kulturellen Identität, und die Vielfalt an Filmen in verschiedenen Sprachen, die in der Schweiz produziert werden, widerspiegelt diese Diversität.

Können Sie uns zwei Beispiele nennen für interessante oder sogar ausgezeichnete Schweizer Filme, die Sie in den vergangenen Jahren gesehen haben?
Ursula Meier ist eine herausragende Filmemacherin. All ihre bisherigen Werke sind authentisch und menschlich, doch «Sister» ist einer meiner Lieblingsfilme der letzten Jahre: eine sehr frische, überraschende Geschichte über das Erwachsenwerden. Mein Kollege von Variety und ich bewunderten dieses Jahr in Locarno zudem die coole, an Chabrol erinnernde Art des Geschichtenerzählens in Frederic Mermouds «Moka» – so sehr, dass wir dem Film an der Schlusszeremonie den Variety Award verliehen.

Wo sehen Sie die Stärken und Schwächen des Schweizer Films?
Ich vermute, dass seine Stärken und Schwächen auf gewisse Weise denselben Ursprung haben: Die multikulturelle Diversität, die ich bereits erwähnte, sorgt für eine grosse Vielfalt an Stilen, Perspektiven und ästhetischen Umsetzungen in der Schweizer Filmindustrie. Zugleich kann sie es auswärtigen Zuschauern aber erschweren, einen Schweizer Film zu erkennen und ihn nicht fälschlicherweise für einen französischen, deutschen oder italienischen Film zu halten.

Welche Unterschiede sehen Sie zwischen europäischen und Schweizer Nachwuchs­filmen? 
Das ist eine schwierige Frage, denn das «europäische Kino» beinhaltet ein so breites Spektrum an Produktions- und Erzählstilen, es gibt da so grosse Unterschiede, dass ich nicht denke, dass man den Schweizer Film in Abgrenzung zum Rest des Kontinents betrachten  kann. 

Welche Rolle spielen Filmkritiken und Filmjournalismus im Allgemeinen für kleine Arthouse-Produktionen?
Sie sind im Rahmen der Festivals von unschätzbarem Wert, denn gute Kritiken – insbesondere in branchenspezifischen Fachpublikationen wie Variety, The Hollywood Reporter und Screen – können ausschlaggebend sein dafür, ob ein unbekannter Independent-Film international vertrieben wird oder nicht. Wenn ich höre, dass sich ein Filmverleiher aufgrund meiner positiven Kritik für einen Film interessiert hat, den er ursprünglich nicht im Visier hatte, ist dies für mich die schönste Belohnung für meine Arbeit.

Wie bewerten Sie den Erfolg von Schweizer Filmen auf den internationalen Märkten?
Ich denke, dass Schweizer Filme zu wenig international vertrieben werden. Wenn jedoch ein Schweizer Film gut ankommt und internationales Potenzial hat, kann er den Durchbruch schaffen: Ursula Meiers ­Filmen fällt dies durch die Besetzung mit Grössen des französischen Kinos wie Isabelle Huppert und Lea Seydoux sicher leichter; internationale Koproduktionen können also ein grosser kommerzieller Vorteil sein.

Worauf sollten sich Regisseure und Produzenten bei der internationalen Vermarktung von Independent-Filmen konzentrieren?
Sie sollten sich darauf konzentrieren, was ihre Filme einzigartig macht, vor allem auf der Handlungsebene: Während Hollywood nach Formeln arbeitet, will das Arthouse-Publikum etwas sehen, was es noch nie gesehen hat. Finden Sie diesen «Aufhänger» und stellen Sie ihn ins Zentrum Ihrer Marketingstrategie – wie zum Beispiel beim stilistisch ungewöhnlichen Film «Ma vie de Courgette».

Schweizer Filme werden stark subventio­niert. Denken Sie, dass dies die Filme beeinflusst, und wenn ja, in welcher Weise?
Ich denke nicht, denn Schweizer Subventionsgeber scheinen keine bestimmte Art von Film, Handlung oder Botschaft bevorzugt zu behandeln. In anderen Ländern sieht man oft staatlich stark geförderte Filme, die das Land von einer touristischen Seite zeigen, aber bei Schweizer Filmen ist mir das nie aufgefallen. 

 Verstehen Sie das Minderwertigkeitsgefühl, das oft gehegt wird in Bezug auf die eigene Filmindustrie?
Ja, ich denke das ist überall so. Das Gras ist anderswo immer grüner, und wir finden das, was andere Länder zu bieten haben, immer aufregender, auch weil das Umfeld, in dem die Filme entstehen, uns weniger vertraut ist.

In den Wettbewerben der A-Festivals haben Schweizer Filme einen schweren Stand. Woran liegt das?  
Die grossen Festivals sind abhängig von berühmten Autoren­namen, diese jedoch entstehen erst durch ihre Präsenz an solchen Festivals! Wenn die Festivalbetreiber also keine Risiken mehr eingehen mit weniger bekannten Namen, wird der Club immer kleiner – vielleicht befindet sich die Schweiz in einer solchen Zwickmühle. 

 

Zur Person 
Guy Lodge  lebt in London, wuchs jedoch in den USA und Südafrika auf, wo er Filmtheorie und französische Literatur studierte. An der London Film School absolvierte der unabhängige Kritiker zudem eine Ausbildung zum Drehbuchautor. Neben seiner Tätigkeit als freier Journalist für The Observer, The Guardian und Time Out arbeitet der 33-Jährige seit 2011 als Kritiker für das Filmfachblatt Variety. Der Kenner der europäischen Independent-Film­szene ist an den meisten wichtigen Festivals vertreten. So besucht er jedes Jahr die Filmfestivals in Locarno, Venedig oder Karlovy Vary und hat so die Gelegenheit, Schweizer Filme in einem internationalen Umfeld kennenzulernen. Dieses Jahr schrieb er zum Beispiel über «Aloys» von Tobias Nölle, «Marija» von Michael Koch und «Moka» von Frédéric Mermoud. Mit Carmen Gray (The Guardian, Screen) und Eric Kohn (Indiewire) nahm er am Diskussionspanel «Rendez-vous du cinéma suisse» von Swiss Films teil, das Tendenzen im Schweizer Filmschaffen im lebendigen und zunehmend kompetitiven Umfeld der Independent-­Produktion diskutiert. 

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