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Artikel

«Ich habe das ganze Dorf miteinbezogen»

Pascaline Sordet
03. Januar 2017

Mehdi Sahebi, Ethnologe und Filmemacher, über seinen für den Prix de Soleure nominierten Dokumentarfilm «MIRR», die Grenze zwischen Beobachtung und Inszenierung und was Regisseure mit Ethnologen verbindet. 

Das Gespräch führte 
Pascaline Sordet

1953 reiste der Filmemacher Henry Brandt für das ethnographische Museum in Neuenburg nach Afrika, mit dem Auftrag, Fotografien, Tonaufnahmen und einen Film nach Hause zu bringen. Das Ergebnis der Reise, «Les Nomades du soleil», wurde 1964 an der Schweizerischen Landesausstellung präsentiert. Der Film war Teil einer Serie von acht Sahara-Missionen, die das Verständnis der Menschen für die Menschen fördern sollte, wie der damalige Museumsdirektor Jean Gabus schrieb. Der Dokumentarfilm wurde in die Sammlung ethnographischer Arbeiten integriert, weil der Film grundsätzlich eine Angelegenheit für Abenteurer war. Natürlich auch für Künstler, doch darüber hinaus für Alpinisten, Wissenschaftler und Ethnologen. Das war Mitte des 20. Jahrhunderts so und stimmt heute noch. 

Unter dem Titel «Reisen ins Landesäussere» zeigen die Solothurner Filmtage eine Auswahl historischer Dokumentarfilme, die zwischen Exotismus und Bewunderung oszilieren. Passend dazu wurde für den «Prix de Soleure» ein Film nominiert, der auf ähnliche Weise wie Brandts Film entstanden ist. «MIRR» von Mehdi Sahebi wurde von der Hochschule Luzern initiiert und hat den Weg auf die grosse Leinwand gefunden. Sahebi erzählt darin vom Kampf kambodschanischer Bauern, die von Plantagen­besitzern enteignet worden sind. 

 

Mehdi Sahebi, Sie sind ausgebildeter Ethnologe und haben im Rahmen eines Forschungsprojekts einen Film gemacht, der nun ins Kino kommt. Weshalb wählten Sie diesen Verbreitungsweg?
«MIRR» nahm seinen Anfang zwar im Rahmen eines Forschungsprojekts, doch es war von Anfang an mein Ziel, einen Kinofilm zu drehen. Die Vorstellung, dass ein so genannter ethnografischer Film «wissenschaftlich» und «objektiv» daherkommen muss und nur für den Forschungskontext gemacht wird, ist völlig überholt. Auch in der visuellen Anthropologie wird schon seit Jahrzehnten darüber diskutiert und auch anerkannt, dass sowohl in visuellen Medien wie auch in Texten immer die Subjektivität des Autors eingeschrieben ist. An den ethnografischen Filmfestivals werden heute übrigens genauso Kinofilme gezeigt wie an anderen Festivals.

Glauben Sie, dass Sie dank Ihrer Ausbildung andere Dokumentarfilme machen, als jemand, der eine Filmausbildung hat?
Im Prinzip gehen Ethnologen genau gleich ans Filmen heran wie Dokumentarfilmer, die einen anderen Background haben. Allerdings sind sie wegen ihrer ethnologischen Schulung etwas anders ausgerichtet, stellen vielleicht etwas andere Fragen und haben vor allem den Anspruch, ein Volk, eine Kultur von innen heraus zu begreifen. Ich persönlich habe mich von Anfang an am Kino orientiert. Ich mache auch keinen Unterschied zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Ich möchte Filme drehen, die soziale Realitäten reflektieren. Dabei erfordert jedes Thema eine eigene Form.

Wenn Sie Dokumentarfilme von Filmschaffenden sehen, die keine Ethnologen sind: Haben sie manchmal das Gefühl, dass diese einen exotisierenden Blick haben? Oder sich zu wenig bewusst sind, dass das Beobachtete vom Beobachtenden beeinflusst wird?  
Ich glaube  eigentlich nicht, dass Kino-­Dokumentarfilmer ohne ethnologischen Hintergrund einen exotisierenden Blick haben. In Spielfilmen und vor allem in TV-Filmen nehme ich diesen viel häufiger  wahr. Ernsthafte Dokumentarfilmer sind sich heute eigentlich sehr stark bewusst, dass sie ihren Bezug zur dargestellten Welt klären müssen. Manchmal geht mir dies sogar zu weit, denn es ist heute fast schon zur Mode geworden, dass die Regisseure sich selbst in ihre Filme einbringen, um ihre Beziehung zur dargestellten Welt, zu den Protagonisten reflektieren. Das ist nicht immer nötig und wirkt manchmal eher störend. Und ausserdem haben auch Ethnologen leider manchmal einen exotisierenden Blick. 

In Ihrem Film fragen sich die Bauern, ob und wie der Film für sie nützlich sein kann. Ist das eine Frage, die Sie sich selbst gestellt haben?
Es war ein grosser Glücksfall für mich, dass ein junger Bauer diese Frage in einer Versammlung gestellt hat, die vom Dorfältesten einberufen worden war. Es war mir sehr wichtig, dass  die Zusammenarbeit mit meinem Protagonisten und unsere Überlegungen bei unseren Treffen im Film thematisiert werden. Dass ein Bauer die Grundsatzfrage stellt, was ein solcher Film überhaupt bewirken kann, ob er für ihn und die Dorfgemeinschaft auch nützlich ist, fand ich grossartig. Natürlich ist das eine Frage, die mich als Filmemacher auch beschäftigt. Ich bin zwar überzeugt, dass man mit Filmen die Welt nicht verändern kann, dennoch glaube ich, dass man die Wahrnehmung eines Themas zumindest beeinflussen kann.

Im Dokumentarfilm ist die Grenze zwischen Inszenierung und Beobachtung  manchmal unscharf.  Die Bauern fragen sich, ob sie sich selbst spielen können. Sie behalten diese Passage im Film, die zeigt, wie der Dokumentarfilm konstruiert wird. Weshalb?
Im Laufe der ersten Recherchearbeiten vor Ort wurde mir aber bewusst, dass es nicht möglich sein würde, spontan bei wichtigen Ereignissen dabeizusein, denn solche sind nicht vorhersehbar und fanden kaum jemals während meiner kurzen Aufenthalte statt. Dazu kam, dass die wichtigen Vertreter der Kautschukfirmen partout nicht vor die Kamera wollten. Alle Inszenierungen und Dialoge des Films basieren entweder auf Gesprächen, die ich mit Binchey und mit seinen Familienmitgliedern und weiteren Dorfbewohnern führte, oder auf Beobachtungen, die ich in seinem Alltag machte. Ich besprach alle Szenen mit ihm, denn ich wollte wissen, welche Momente unde Aspekte seines Lebens er als wichtig empfand. Nach und nach bezog ich das ganze Dorf in diesen Prozess mit ein. So kam es zur Versammlungsszene, in der Gllang, der Dorfälteste, den Dorfbewohnern vorschlägt, dass das ganze Dorf mich unterstützen soll. 
Diese Szene war rein dokumentarisch. Schon beim Drehen wurde mir klar, dass sie zu einer Ebene würde, in der die Dorfgemeinschaft ihre Rolle im Filmprojekt reflektiert und mit der ich indirekt auch den filmischen Prozess selbst thematisieren konnte. 

Haben Sie mit der Kamera eine andere Sicht auf die Dinge, als wenn Sie Forschungsarbeit betreiben?
Wenn Sie einen Film drehen, gehen Sie anders vor, als wenn  Sie einen wissenschaftlichen Text schreiben. Jedem Dokumentarfilm geht eine Recherche voraus, in der man Informationen sammelt und auswertet. Als Filmemacher suche ich natürlich nach faszinierenden Protagonisten, nach aussagekräftigen Schauplätzen und vor allem nach Geschichten. In einem Film habe ich ja nur 90 Minuten Zeit. Ich muss also starke Szenen finden, die viel auszusagen vermögen – sowohl über die Stimmung als auch über die Symbolik.

Ein ethnographisch gefilmtes Dokument ist nicht immer ein Film. Was ist im dokumentarischen Format enthalten, das in einem Dokument für die Forschung fehlt?

Es kommt darauf an, was mit einem «Dokument für die Forschung» genau gemeint ist. Da gibt es ja unterschiedliche Formen. Ich würde sagen, dass sich die Bedeutung eines filmischen Dokuments, das in Ergänzung zu einem wissenschaftlichen Text gedreht wird, erst durch den wissenschaftlichen Text erschliesst. Ausserdem kann das Dokument künftigen Forschern als Quellenmaterial dienen, auch für neue Interpretationen. Beispielsweise kann das Video eines Rituals von verschiedenen Forschern unterschiedlich interpretiert werden. Ein Dokumentarfilm geht aber immer über ein reines Dokument hinaus, weil er die Interpretation des Autors, seine Sicht auf die Dinge, seine Haltung stets mit einschliesst. Dies geschieht vor allem durch die Montage, aber auch durch Einstellungen, Symbole und Inszenierungen. Ich habe mich immer nur für diese letztere Form interessiert, also für den Dokumentarfilm. 

Wie haben Sie das Thema ihres Films gewählt? Es ist nicht Teil Ihrer Kultur, es ist kein Film über Ihre persönliche Geschichte. Was hat Sie motiviert?
Ich bin über ein Forschungsprojekt der Universität Luzern darauf gekommen. Ich wurde angefragt, im Rahmen eines Nationalfonds­projekts einen Film zu drehen. Das Thema war «Land Grabbing» bei den Bunong in Kambodscha, also das Problem der Enteignung von Land durch multinationale Firmen. Den Dorfbewohnern und dem Protagonisten Binchey fühlte ich mich sehr verbunden.

Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich in den 80er Jahren gezwungen war, aus dem Iran zu flüchten und in gewisser Weise auch die Erfahrung gemacht habe, der Heimat beraubt zu werden. Auch die Bunong verlieren ja nicht nur ihre Felder, sondern im Zuge der sogenannten «Entwicklung» auch ihre Kultur. Binchey stellt sich aber gegen sein Schicksal, möchte nicht klein beigeben. Das hat mich sehr beeindruckt und ich konnte mich sehr gut mit ihm identifizieren. 

Passen die Anforderungen der Ethnographie und des Films zusammen?
Ja, denn in beiden Bereichen möchte man in erster Linie eine soziale Realität verstehen und sie dem Zuschauer vermitteln. Ob man als Ethnologe einen Text schreibt oder einen Film dreht, bedeutet nur, dass man sich für das eine oder andere Ausdrucksmittel entscheidet.

«MIRR» läuft in Solothurn am 21. und 23.Januar

▶  Originaltext: Französisch

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