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Der Schweizer Film – abgekoppelt von der Realität?


21. Juli 2017

Das Festival Locarno lanciert gemeinsam mit dem Genfer «Tous Ecrans» und dem «Zurich Film Festival» das Programm «Connect to Reality». Dabei soll sich die Branche unbequeme Fragen stellen und Lösungen suchen.

Von Pascaline Sordet

Die Kinobesuche lassen keine Zweifel offen: Dem Schweizer Film ist an der Kasse kein Erfolg beschieden, weder international noch im eigenen Land. Zwar machten «Ma vie de Courgette» und «Die Göttliche Ordnung» während einiger Monate von sich reden, doch darüber darf man die elementaren Probleme nicht vergessen, mit denen sich der Schweizer Film auseinandersetzen muss – heute und in Zukunft: zu viele Filme, zu wenig Leinwände, ein wenig interessiertes Publikum, nur selten mal eine Einladung an ein grosses Festival, die Vervielfachung der Verbreitungskanäle, das Auftauchen neuer Formen der Narration.

Die Festivals von Locarno, Zürich und Genf haben beschlossen, über diese Realität nachzudenken. Nadia Dresti, künstlerische Vizedirektorin des Festivals Locarno und für die Industry Days zuständig, hat mit Emmanuel Cuénod, Leiter des Geneva International Film Festival Tous Ecrans, und Karl Spoerri, Direktor des Zurich Film Festival, ein gemeinsames Programm auf die Beine gestellt: «Connect to Reality», das in drei Teile gegliedert ist. In Locarno werden sich die Gespräche um den internationalen Filmverleih drehen, in Zürich um Fragen rund um die Produktion und in Genf um kreative Entwicklungen. Man will keine bereits bekannten Probleme aufwärmen, sondern konkrete Vorschläge besprechen. 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden ihr Fachwissen einbringen: «Jede Gruppe wird nach einer genau definierten Vorlage arbeiten, wobei je ein Viertel der Leute aus dem Ausland kommt. Wir möchten wissen, welche guten Beispiele und Vorgehensweisen es gibt, werden aber der Branche nicht sagen, wo es langgehen muss, sondern ihr mögliche Wege aufzeigen», sagt der Leiter von Tous Ecrans.

Kurze Entstehungszeit

Das Bedürfnis nach Selbstkritik entstand nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014. Nadia Dresti weilte in Berlin und hörte, wie sich die Verleiher und Verkäufer sorgten: Ohne die Unterstützung von MEDIA würde es schwierig werden, Schweizer Filme zu kaufen. Seitdem hat das BAK zur Linderung des Schocks Ersatzmassnahmen eingeführt, dennoch wurde die Branche durchgeschüttelt. Die für die Industry Days Verantwortliche beschloss die Lancierung von StepIn.ch, einem Think Tank, der sich mit dem Verleih von Schweizer Filmen im Ausland befasst. Die ersten drei Ausgaben waren ein Erfolg und stiessen bei Schweizer Filmschaffenden auf Interesse. «Sie sind alle gekommen», freut sich Nadia Dresti. Dennoch ist sie ein bisschen frustriert: «Den vielen Worten folgten keine Taten. Es reicht nicht mehr, sich einmal pro Jahr zu treffen.»

Aus den informellen Diskussionen zwischen den drei Kollegen entstand die Idee zu einem Programm, das nicht nur in Locarno, sondern auch an den beiden anderen Festivals entwickelt werden soll. Im März 2017 war es so weit, und Ende Mai wurde StepIn.ch ­zu «Connect to Reality». «Wir hätten das Ganze um ein Jahr bis 2018 verschieben können, was aber angesichts der Dringlichkeit des Problems zu lange gewesen wäre», sagt Emmanuel Cuénod, «und so stürzten wir uns ins Abenteuer; jeder wird im Verlauf der Gespräche merken, dass man dieses Projekt ziemlich frei angehen kann».

Die Maschinerie setzte sich also sehr rasch in Bewegung, und die Zusammenarbeit zwischen den Festivals erwies sich als viel einfacher, als erwartet. «Von der Zusammenarbeit mit der Filmbranche können wir gegenseitig nur profitieren, wir alle pflegen eine internationale Ausrichtung und internationale Netzwerke und tragen so die Schweiz als Filmfestivalstandort in die Welt», sagt Karl Spoerri. «Dies wünschen wir uns auch für die Schweizer Filme und das wiederum kommt zurück, wenn wir die Filmproduktion und Auswertung genauso international denken.» Emmanuel Cuénod erwähnt, dass das BAK diese Initiative «mit viel Wohlwollen» betrachtet. «Wir gehen nicht davon aus, dass das, was heute gemacht wird, schlecht ist. Unsere stärkste Motivation ist, zu sehen, dass wir in der Schweiz Erfolge haben! Vielleicht ist unser System das bestmögliche, doch es ist 25 Jahre alt, und die Gegebenheiten haben sich geändert. Es wäre falsch zu denken, dass unser Vorgehen eine Kritik ist.»

Festivals als Plattformen

Die Fragen sind nicht neu, doch Emmanuel Cuénod verweist auf die Ambition von Connect to Reality und auf seine drei Facetten: «Wenn die Branche die Debatten interessant findet, so werden wir hoffentlich das Programm über drei Jahre weiterführen können», also bis zur Neuaushandlung des Pacte de l’audiovisuel 2019 und bis zur neuen Kulturbotschaft 2020. Eine Frage bleibt: Weshalb initiieren die Festivals diese Diskussionen, wo doch der Schweizer Film viele Branchenverbände zählt, die alle von den technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen betroffen sind? «Weil wir keine Lobbyisten sind», antwortet Nadia Dresti. Die Verleiher, Produzentinnen und Kinoauswerter betreiben Lobbying für ihre eigene Sache, das ist logisch. Ein Festival vereint von seiner Natur her alle Berufsgattungen der Branche sowie internationale Players und bietet somit einen günstigen Rahmen für solche Begegnungen.» Die Einladung der Fachleute aus dem Ausland erfolgt aus derselben Optik: Sie sind neutral und vertreten keine Brancheninteressen.

Natürlich sind die Festivals dazu da, dem Publikum Filme zu zeigen, «das bleibt deren wichtigster Auftrag», sagt Nadia Dresti. Doch ohne Markt haben diese Anlässe wenig Auswirkungen: «Locarno würde ohne die Industriesektion international viel Gewicht verlieren. Die Verkäufer geben uns nicht nur Filme, weil wir sie auf der Piazza Grande 8000 Personen vorführen, sondern auch weil die Industry Days Käufer, Verleiherinnen, Programmgestalter und trade papers anziehen.» Ihnen gezielte Gesprächsplattformen zu bieten ist nichts als eine logische Folge. Emmanuel Cuénod zieht den Schluss: «Dies zu tun, ist uns ein Anliegen, wir müssen uns darum kümmern und brauchen ein starkes Filmschaffen.» Karl Spoerri ist direkter, er erhofft sich «Bewegung in der Szene, ein ‹make Swiss cinema great again›. Und vor allem nicht so kleinräumlich zu denken.»

 

«Connect to Reality» am Locarno Festival
5. August, 14:00
Hotel Belvedere

 

  Originaltext: Französisch

 

Locarno: internationale Verkäufer im Fokus
5. August

«Die drei Themenkreise – einer pro ­Festival – haben sich spontan ergeben. In Locarno möchten wir herausfinden, weshalb die internationalen Verkäufer so wenig Schweizer Filme in ihre Kataloge aufnehmen. Der Schweizer Film hat Mühe, sich im weltweiten audiovisuellen Angebot zu behaupten. Weshalb gibt es in den Katalogen und in den Wettbewerben der grossen Festivals oft Filme aus Rumänien, Schweden und Israel? Auch wir haben die Talente und die Mittel, wo liegt das Problem?»
Nadia Dresti

 

Zürich: Herausforderungen in der Produktion
2. Oktober

«Wir möchten die Art thematisieren, wie Filme in der Schweiz finanziert und gefördert werden und neue Ansätze finden. Der Strukturwandel in der Industrie hinterlässt auch in der Schweiz seine Spuren, und Förderer müssen sich verändern. Die Reaktionen waren sehr positiv – die Produzenten spüren ja auch die veränderten Marktbedingungen und brauchen neue Modelle und Möglichkeiten.»
Karl Spoerri

 

Genf: Kreativität gefragt
7. November

«In Genf werden wir uns speziell mit den veränderten kreativen und narrativen ­Formen befassen. Ist der Film unser einziges Thema? Oder unser wichtigstes? Wir können auch über Videospiele und Immersion nachdenken. Ausserdem möchten wir den Platz der kreativ Schaffenden genauer betrachten. Heute wird der Beziehung zwischen Autoren und Produzenten zu wenig Bedeutung beigemessen. Da die Produzenten nicht alleine entscheiden, greifen viele Leute in diese Beziehung ein, zum Beispiel die Förderkommissionen, und es besteht das Risiko, dass sie dadurch verändert wird.»
Emmanuel Cuénod

 

 

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