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Artikel

Der innere Film

Kathrin Halter
06. Juni 2016

Ab 1. Juli sollen Audiodeskriptionen von Schweizer Filmen, die vom Bund gefördert werden, obligatorisch werden. Was bringen diese eigentlich und wie funktionieren sie? 

Von Kathrin Halter

Daniele Corciulo ist beinahe blind. Er geht auch gerne ins Kino. Seit zwei Jahren tut er das immer öfter: Denn seit es «Greta» gibt, die App, die Audiodeskriptionen von ausgewählten Filmen anbietet, versteht nicht nur er den Film viel besser. Sondern auch seine nicht sehbehinderten Freunde, die ihn ins Kino begleiten und früher vor lauter Zuflüstern und Erklären den halben Film verpasst haben. Jetzt ist der gemeinsame Kinobesuch unbeschwert und Daniele Corciulo geht auch mal alleine ins Kino.

Audiodeskriptionen künden Figuren an, skizzieren in den Dialogpausen Handlungselemente und evozieren Bilder; eine möglichst präzise, knappe und zugleich sinngerechte Beschreibung dessen, was Sehbehinderte schlecht und Blinde überhaupt nicht mitbekommen. Die Kunst bestehe darin, einen Text zu schreiben, der mit dem Rhythmus des Films korrespondiert, das Essentielle erfasse und nicht mit zu vielen Informationen überfordert, so beschreibt ein Produzent von Audiodeskriptionen die anspruchsvolle Arbeit.  

Das Filmangebot ist noch stark begrenzt
Die Gratis-App funktioniert so: Man lädt die Audiodeskription des gewünschten Films herunter und startet diese im Kino; die App empfängt das vom DCP gesendete Signal und synchronisiert sich so mit dem Filmton. Benötigt werden neben einem Smartphone lediglich Kopfhörer. Ein kürzlich gemachter Selbstversuch in Zürich führte allerdings ins Leere: Noch funktioniert die App nur bei deutschen Synchronversionen. Kinos brauche keine Sonderausstattung, laut Res Kessler von der Zürcher Neugass Kino AG genügt ein Wifi-Anschluss. 

Auch das Filmangebot ist noch beschränkt: Der Katalog von «Greta» enthält bislang vor allem deutsche Produktionen sowie vereinzelt – deutsch synchronisierte – US-Produktionen. «Heidi» ist momentan der einzige Schweizer Film im Angebot, französisch- oder italienischsprachige Filme sucht man vergebens. Deshalb fährt Daniele Corciulo ab und zu nach Konstanz ins Kino, weil ein Film im Angebot von «Greta» nur in Deutschland läuft.

Das dürfte sich bald ändern: Ab 1. Juli sollen Audiodeskriptionen von langen Spielfilmen, die vom Bund mit mehr als 300ʼ000 Franken und von langen Dokumentarfilmen, die mit mehr als 125ʼ000 Franken gefördert worden sind, obligatorisch werden. So steht es in der neuen Filmförderverordnung. 

Am kulturellen Leben teilhaben
Und was sind die Nachteile der App? Letzthin hat sich eine Sitznachbarin von Daniele Corciulo von Nebengeräuschen gestört gefühlt; man müsse darauf achten, dass man nicht zu laut hört. Corciulo fände es auch noch gut, wenn das Publikum über die Möglichkeiten für Seh- und Hörbehinderte hinwiesen würde, damit sich niemand wundert, wenn Leute mit Hörern und Tablets im Kino sitzen. 

Aber sind Audiodeskriptionen nicht nur ein Notbehelf, ein sehr mangelhafter Ersatz für das Kinoerlebnis, das ja primär visuell funktioniert? Für Corciulo ist klar: Je grösser das Angebot, desto besser. 

Etwas anders erlebt das Nick Joyce, Kulturjournalist bei der Basler Zeitung. Er ist sehbehindert und hat für «Look & Roll», das Basler Kurzfilmfestival zum Thema Behinderung, selber schon bei Audiodeskriptionen mitgeholfen. Diese können sehr nützlich sein, findet Joyce: Besonders bei Filmen, wo wenig gesprochen werde oder die stark visuell funktionieren. Wenn ein Film hingegen sehr dialog­lastig sei, brauche es nicht unbedingt Audiodeskriptionen; gewisse Filme liessen sich wie ein Hörspiel geniessen, man bekomme auch so sehr viel mit. 

Nochmals anders sieht das Bruno Quiblier vom Verein «Base-Court» aus Lausanne und selber Produzent von Audiodeskriptionen: Es gehe für Sehbehinderte auch darum, ausgehen zu können, Kultur in der Gemeinschaft zu erleben, am kulturellen Leben teilzuhaben. Um Integration halt. Bruno Quiblier setzt sich seit Jahren für «barrierefreies Kino» ein. Sein Verein «Base-Court» steht auch hinter dem Projekt «Regards Neufs», das seit 2010 Kinovorstellungen für Seh- und Hörbehinderte in Lausanne, Genf und Martigny veranstaltet. In der Vernehmlassung zu den Filmförderungskonzepten hat er sich für obligatorische Audiodeskriptionen stark gemacht; am Informationstag von Focal vom 20. Mai (nach Redaktionsschluss) präsentierte er den entsprechenden Themenbereich. 

Die Behinderten hätten zwar Zugang zu Audiodeskriptionen am Fernsehen und bei DVDs, sagt Quiblier. «Die einzige Möglichkeit, ein Kino zu besuchen, besteht fast überall noch darin, sich von jemandem begleiten zu lassen, der die Handlung nacherzählt.» Zumal «Greta» bislang noch keine französischen Audiodeskriptionen anbietet.

Quiblier war deshalb kürzlich bei den Betreibern der App in Berlin, die gegenwärtig die französische Version entwickeln, die im September in der Romandie und später in Frankreich lanciert werden soll. Dabei wird Regards Neufs für die Programmation und Kommunikation in der Schweiz verantwortlich sein; Quiblier, der auch Ausbildungsangebote für Audiodeskriptoren anbieten will, ist bereits mit Verleihern in Kontakt. Auch Hörfilme in Italienisch sind geplant. 

Wer bezahlt die Mehrkosten?
Ein Geschäft machen will Quiblier damit nicht: «Regards Neufs» ist als nicht-kommerzieller Verein organisiert. Ziel sei es, dass dereinst alle Kinos in der Schweiz für Behinderte zugänglich sind, mit andern Worten: dass die Applikation auch überall funktioniert. Und dass der Filmkatalog fortlaufend erweitert wird, auch um Produktionen aus weiteren Ländern. 

Und wer bezahlt die Kosten, zumal für einen Schweizer Film? Zwischen 7ʼ000 und 8ʼ000 Franken kostet schätzungsweise das Erstellen einer Audiodeskription für einen rund neunzigminütigen Film. Es sind die Produzenten, die den Betrag in ihrem Gesamtbudget berücksichtigen müssen. Laut Ivo Kummer sind die Produzenten frei, bei wem sie die Audiodeskription herstellen lassen, technische Dienstleister werden keine vorgeschrieben. Vereinzelt gab es negative Reaktio­nen über die Mehrkosten. Allenfalls werden zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten, etwa bei Stiftungen, gesucht. 

Laut Quiblier geht es aber auch darum, einen kulturellen Rückstand aufzuholen: Audiodeskriptionen sind in Ländern wie Frankreich oder Deutschland für nationale Produktionen obligatorisch. Und Ivo Kummer erinnert daran, dass die «Stärkung kultureller Teilhabe» ein wichtiges Element in der Kulturbotschaft sei; dass man für seh- und hörbehinderte Menschen den Zugang ins Kino ermögliche, daran liege ihm wirklich. 

Und was wird den Hörbehinderten und Gehörlosen im Kino geboten? Die App heisst «Starks», stammt vom selben Entwickler wie «Greta» und aktiviert synchron geschaltete Untertitel auf dem Tablet oder Smartphone. Ein Selbstversuch zeigt allerdings schnell, wie unbequem es ist, den Blick beständig zwischen Tablet und Leinwand hin- und herzubewegen. Kommt hinzu, dass Untertitel bei Originalversionen ja schon geboten werden, wenn auch ohne die Geräusch- und Musikbeschreibungen in Klammern. 

Auch da ist eine Verbesserung in Sicht: Bereits im September soll eine Brille auf den Markt kommen, die Untertitel für Hörbehinderte einblendet. Der Prototyp wurde an der letzten Berlinale präsentiert. Die Brille funk­tioniert auch am Fernsehen oder mit DVDs. 

http://gretaundstarks.de/greta/greta/

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