MENU Schliessen

Artikel

Romane auf die Leinwand!


19. Mai 2016

Romane von Schweizer Autorinnen und Autoren gelangen selten auf die Leinwand, auch wenn sie Verkaufserfolge sind. Dabei gäbe es in der Literatur viele filmreife Geschichten.

Von Pascaline Sordet

«In unserem Land herrscht ein echtes Drehbuchproblem», sagt Thierry Spicher, Produzent bei Box Productions. Seit Jahren besteht es, wurde nie gelöst, doch endlos diskutiert: Der Schweiz fehlt es an Geschichten. Zu Recht werden die Dokumentarfilme gelobt, sie sind unser Stolz, die Spielfilme geraten dabei in den Hintergrund. Ob man nun diese Ansicht teilt oder nicht: Sicher ist, dass die Adaption fürs Kino wenig Beachtung erhält. «Deshalb versuchen wir, alle Neuveröffentlichungen zu lesen», fügt der Produzent bei.
Im Wissen um die mangelhafte Ausbildung im Drehbuchbereich und daran interessiert, dessen Spielraum auszuweiten, lancierte der Verein Fonction:Cinéma im vergangenen Jahr ein Pitching, an dem die Buchverleger den Filmproduzenten in wenigen Minuten Bücher vorstellen konnten. Da die beiden Welten wenig miteinander zu tun haben, musste der Kontakt angeregt werden. Ein zweites Pitching fand im April in Genf statt, in der Hoffnung, einzelnde Romane würden den Weg ins Kino finden.

Auf der Suche nach Rohmaterial
Für die Verleger bringt die Adaption in erster Linie einen wirtschaftlichen Vorteil. Der Verkauf der Rechte kompensiert die ins Buch investierte Arbeit und lässt dessen Leben über die erste Veröffentlichung und eine mögliche Taschenbuchausgabe hinaus verlängern. «Meine Aufgabe ist, einem Buch zu helfen, Grenzen  zu überschreiten», sagt Caroline Coutau, Geschäftsführerin der Editions Zoé und Mitorganisatorin des Pitchings. «Meistens ist die Grenze sprachlicher Natur, und es geht darum, die Verleih- und oft auch die Übersetzungsrechte zu verkaufen, damit die in der Romandie geschriebenen Bücher auch anderswo gelesen werden.» Auch das Genre ist eine Grenze. Die Adaption ist ein Mittel, die Geschichten ein zweites Mal aufleben zu lassen.
Buchpräsentationen sind für die Verleger an der Tagesordnung. An Buchsalons und Messen sprechen sie regelmässig über ihre Werke. Im verlegerischen Umfeld stehen die Buchautorinnen und -autoren im Fokus, «doch beim Film wird dies nicht mehr der Fall sein», sagt die Verlegerin. Und das kann unter Umständen kompliziert werden. Die Verleger sind naturgemäss von den Werken begeistert, doch es bereitet ihnen manchmal Mühe, die filmischen Aspekte hervorzuheben oder das Adaptionspotenzial einer Geschichte zu vermitteln. «Es braucht mehr Details zur Erzählung, zu den Figuren und weniger zum Schreibstil», sagt Caroline Coutau einige Tage vor dem Anlass. Es braucht eine Rückkehr zum Stoff, bevor er in eine Form gebracht wurde, auf den der Drehbuchautor und später die Regie zurückgreifen können, um ein neues Werk zu schaffen. 

Erkunden von Geschichten
Erstaunlicherweise scheinen sich die Bücher des Verlags Joie de Lire, die sich an die Jungen richten, am besten dafür zu eignen. Weil sie einfach sind, was nicht simpel bedeutet, sondern eher, dass sie eine gewisse Schlichtheit des Erzählbogens aufweisen.
«Die Westschweizer Literatur hat eine lange Tradition, ein hohes Niveau und ist auf internationaler Ebene viel besser verankert als der Schweizer Film. Sie hat sich einen guten Platz erobert.» Schwingt in Thierry Spichers Stimme ein bisschen Neid oder eher Bewunderung mit? Jedenfalls bedauert er den Mangel an Erfahrung der Schweizer Drehbuchautoren und überhaupt, dass es eigentlich fast keine gibt: «Die Ausbildung ist das Kernproblem. Die meisten Drehbuchautoren lernen bei der Arbeit, doch die Schwierigkeit ist: Es gibt ja kaum Arbeit.» Ein grosses Volumen wäre für Drehbuchautoren wie auch für die meisten Handwerker wichtig, denn sie müssen regelmässig arbeiten können, um ihre Fähigkeiten zu bewahren. Thierry Spicher spricht ein weiteres Problem an, das sich mehr auf die Geschichten bezieht: «Die Schulen bilden Künstler aus, deren erstes Drehbuch oft persönlich, dicht und manchmal eher schwer ist, die aber keinen zweiten Film drehen, höchstens einen Konzeptfilm. Andrea Štaka ist ein Paradebeispiel dafür.»
Könnte demzufolge das Adaptieren dem Mangel an Arbeitsmöglichkeiten und an Geschichten entgegenwirken? «Die Adaption drängt sich ja geradezu auf, wenn man an die Qualität der Schweizer Literatur denkt. Ich verstehe nicht, weshalb man nicht öfter auf sie zurückgreift.» Die jüngsten Erfolge von «Heidi» und «Schellen-Ursli» sind gute Beispiele gelungener Adaptionen; sie gehören zu den fünf rentabelsten Werken des Schweizer Films zusammen mit «Mein Name ist Eugen» – ebenfalls einer Buchadaption. Die Werke der Westschweizer literarischen Grössen Ramuz und Chessex (im Bild: «Derborence» von Francis Reusser nach Charles-Ferdinand Ramuz) wurden in Bilder umgesetzt, Jacob Berger übrigens arbeitet gerade an «Ein Jude als Exempel». Doch es finden nicht nur Schweizer Klassiker den Weg vom Papier auf die Leinwand: Gut verkaufte Bücher sind kurz nach ihrer Veröffentlichung bereits adaptiert worden und sind im Kino erstaunlich gut angekommen. «Der Goalie bin ig», «Lila Lila» oder «Nachtzug nach Lissabon» sind Verfilmungen von Büchern aus der Schweiz, die hervorragende Ergebnisse erzielt haben. Thierry Spicher erinnert zudem an Truffaut, «der fast nur Romanadaptionen drehte, praktisch keine Originaldrehbücher hatte und dennoch krea­tive Arbeit leistete.» Er beklagt die «Naivität derer, die denken, dass alles ohne Originaldrehbuch dem Fernsehen zuzuordnen ist». 

Lokale Geschichten, unverselle Wirkung
Doch auch bei einer Adaption ist die Arbeit eines Drehbuchautors unerlässlich, und das Problem der Ausbildung und Erfahrung ist nicht vom Tisch: «Ja, aber die Geschichte besteht schon», sagt Thierry Spicher. Der Drehbuchautor kann eine Technik, ein Know-how anwenden, ohne zudem noch die ganze Geschichten erfinden zu müssen. Ausserdem muss ein Roman mehr als nur einen Achtungserfolg vorweisen, damit ein Film von dessen Erfolg profitiert, denn es gibt kaum mediale Möglichkeiten, die ein breites Publikum zu mobilisieren vermögen. Abgesehen davon ist der Westschweizer Produktionspool zu klein, als dass die Produzenten regelmässig literarische Werke herausfischen könnten, wie das in Frankreich, vor allem aber auch in den angelsächsischen Ländern der Fall ist. Übrigens entstand die Idee zum Pitching anlässlich eines solchen Ereignisses, «bei der Veröffentlichung des Romans von Joël Dicker und der Diskussion um eine mögliche Adaption in den USA. Wie diese verläuft, ist uns nicht bekannt», sagt Frédérique Lemerre, die bei Fonction:Cinéma für die Anlässe zuständig ist.
Schweizer Bücher und Filme haben nicht nur die regionale Zugehörigkeit als gemeinsamen Nenner, sondern auch die Themen. Die Verlegerin Caroline Coutau sagt dazu: «Die Filmschaffenden und Schriftsteller leben im selben Umfeld und in engem Kontakt zur Natur. Sie haben einen scharfen Beobachtungssinn und gleichzeitig trauen sie sich kaum, Geschichten zu erzählen. Deshalb bewegen sie sich oft an der Grenze zwischen Fiktion und Realität.» Ähnlich tönt es bei der Firma Box Productions, die auf die pragmatischen und rechtlichen Vorteile der Adaption eines Schweizer Romans hinweist, aber auch auf die tiefer liegenden Verbindungen: «Die am stärksten lokal verankerten Angelegenheiten haben universellen Charakter. Ich würde gerne andere Romane verfilmen, die mir gut gefallen, aber die Westschweizer Literatur hat ein echtes Potenzial mit ihrem Bezug zur Welt, zur Familie, zur Sexualität, wie wir sie in der Schweiz leben.» 
Thierry Spicher spricht das Thema an, weil seine Firma im Moment zwei abendfüllende Adaptionen von Schweizer Romanen plant. Einer stammt aus der Küche der Editions Zoé: «Das Flirren am Horizont» von Roland Buti. Der Roman spielt in seiner Region, hat eine gute Dramaturgie und handelt vom ländlichen und familiären Zerfall. Das Buch war in der Schweiz recht erfolgreich und verkauft sich auch in Deutschland sehr gut. «‹Das Flirren am Horizont› war ein Buch, das unseren Vorstellungen in Bezug auf Geschichte, Sprache und Realitätsbezug entsprach. Ursprünglich wollten wir ‹Ein Jude als Exempel› von Jacques Chessex verfilmen, doch die Rechte waren bereits vergeben.»  

Unverbindliche Kontakte
Im Buch von Roland Buti entdeckte der Produzent vielversprechendes Material. Er kontaktierte den Autor und den Verlag und erwarb die Rechte. Dann nahm die Produktion ihren Lauf. Zuerst wurde eine Drehbuchautorin, Joanne Giger, beigezogen, während das Projekt gleichzeitig mehreren Regisseuren vorgestellt wurde.» 
Sobald die Rechte verkauft sind, beobachtet Caroline Coutau das Abenteuer aus der Distanz: «Auch Roland macht das und sagt, das gehöre nun nicht mehr ihm. Bei einer Adaption sind die Entscheidungen getroffen, man bevorzugt den einen oder anderen Aspekt, verfremdet das Buch ein bisschen. Doch da müssen wir durch, ein wenig Trauerarbeit ist dabei schon zu leisten, doch der Kopf richtet das.» Nach Ansicht von Thierry Spicher ist eine Adaption weder komplizierter noch einfacher als ein Originaldrehbuch, aber anders ist es schon. In den Romanen stecken viele filmreife Geschichten, doch die Kontakte zwischen Verlagen und Produktionsfirmen sind «eher vage und distanziert. Wenn uns ein Roman interessiert, kontaktieren wir die Verlagshäuser, wir erhalten jedoch keine Hinweise von ihrer Seite.» Die Verleger setzen sich nicht aktiv für den Verkauf von Adaptionsrechten ein. Bei Zoé kümmert sich übrigens nicht das Verlagshaus, sondern eine Agentur um die Verkäufe für Kinoadaptionen oder für Übersetzungen in andere Sprachen. «Wenn wir das filmische Potenzial eines Buchs erkennen, teilen wir dies der Agentur mit», präzisiert die Geschäftsführerin. «Die Kontakte könnten enger sein, vor allem in der Romandie, wo beide Seiten ähnlich vorgehen. Zur Deutschschweiz und auch zum Nachbarn Frankreich sind die Verbindungen komplizierter.»
Von den ersten beiden Verleger-Pitchings sind noch keine Ergebnisse bekannt. Doch die Stimmung ist gut, der Saal voll. Die Verleger haben der Einladung Folge geleistet. «Allerdings sind wir nicht auf der Suche nach Gleichgesinnten», sagt Caroline Coutau. «Wir möchten Bücher verkaufen.» Und die andere Seite möchte Geschichten kaufen.

 

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife