MENU Schliessen

Sprung ins Leere

Pascaline Sordet
16. September 2022

Elena Avdija (links) und ein Filmstill aus «Cascadeuses» («Stuntwoman»). © zvg

Die schweizerisch-kosovarische Regisseurin Elena Avdija zeigt am ZFF einen ersten Langfilm. Das Porträt dreier Stuntfrauen ist vor allem eine Reflexion über Gewalt.

 

In Elena Avdijas erstem Neunzigminüter «Cascadeuses» geht es nicht um ihre Familie. Obwohl da einiges zu erzählen gewesen wäre. Geboren im Kosovo, kam sie mit zwei Jahren in die Schweiz, nach Delémont. «Genauso gut hätten wir auch in der Deutschschweiz landen können, wie die Exilfamilien verteilt werden, ist reines Roulette», sagt sie lauthals lachend. Ihr Vater, ein Biologe und militanter Befürworter der Unabhängigkeit, stieg bei einem Zwischenstopp aus, beantragte Asyl, profitierte von der Familienzusammenführung und schulte zum Krankenpfleger um. Mit ihren Eltern spricht Elena Avdija weiterhin albanisch, auch wenn die Grenzen fliessend geworden sind.

Die Dreissigjährige pflegt eine offene und liebevolle Beziehung zu ihrer Herkunft, obwohl sie noch klein war, als Jugoslawien zusammenbrach und der Balkan für ein Jahrzehnt in kriegerischen Auseinandersetzungen versank. «Es war schwer für mich zu verstehen, warum es weniger cool war, Albanerin zu sein als Italienerin». Von ihrem Migrationsweg geblieben ist ihr heute vor allem ein Gefühl der Bereicherung sowie – das dann doch! – ein Kurzfilm über die sprichwörtlichen Sommerferien auf dem Land mit dem Titel «Is it better here or there?». 

Ihr erster Spielfilm beruht also nicht auf ihrer persönlichen Geschichte, sondern auf ihren intellektuellen Interessen. Sie studierte Soziologie an der Universität Lausanne und schloss ihren Master in Dokumentarfilm am INA in Paris ab. Initialzündung für alles weitere war das Kino: Aus Faszination für das Geschehen hinter der Leinwand beschliesst sie, sich für ihr Abschlussprojekt dem Beruf der Stuntfrau zu widmen.

Schnell treffen Elena Avdija und ihre damalige Kollegin Jeanne Lorrain auf Virginie Arnaud, im französische Kino eine feste Grösse: «Virginie war sich bewusst, dass sie viele Schauspielerinnen doubelte, die Gewaltopfer darstellten. Für Frauen werden Stunts eingesetzt, wenn sie geschlagen, vergewaltigt und entführt werden. Sich davon faszinieren zu lassen, gibt der sexistischen Gewalt in unserer Vorstellung viel Raum, was dazu beiträgt, sie im wirklichen Leben zu banalisieren. Mein Film will diesen Teufelskreis sichtbar machen.»

 

Ein Jahrzehnt Arbeit

Flashforward. Zehn Jahre später erlebt der Film im Rahmen des Focus-Wettbewerbs am Zurich Film Festival seine Leinwandpremiere. Zehn Jahre hat Elena Avdija gebraucht, um die richtigen Darstellerinnen zu treffen und ihr Casting mit Petra Sprecher und Estelle Piget zu vervollständigen. Ausserdem brauchte es seine Zeit, eine Produktionsfirma zu finden und sich handelseinig zu werden (Bande à part Films), nachdem Jeanne Lorrain das Projekt verlassen hatte.

Es waren zehn Jahre, in denen sie den Film immer wieder neu geschrieben und gedacht, den Gefühlslagen der verschiedenen Protagonisten angepasst hat: «Virginie hat sich in diesen zehn Jahren stark verändert. Sie hatte die Praxis, ich die Theorie, wir trafen uns in der Mitte. Estelle wiederum ist so etwas komplett egal, sie sieht die Welt nicht durch die intellektuelle Brille – und gibt mir das deutlich zu verstehen!» Anstrengend waren die Dreharbeiten oft auch für sie selbst: «Ich habe mit vielen Frauen gesprochen, die sexistisch und sexuell missbraucht worden waren. Am Ende der Dreharbeiten sprachen wir fast nur noch darüber, und es war sehr anspruchsvoll, sich inmitten dieser Geschichten zu bewegen und den Finger in Wunden zu legen, die den Frauen um mich herum real zugefügt wurden.» Gerade diese Realitätsnähe macht in ihren Augen einen engagierten Film aus. Für Elena Avdija gibt es keinen Widerspruch zwischen künstlerischer und politischer Arbeit.

Entfernt davon, zu resignieren, träumt die Regisseurin laut vor sich hin, wie es wäre, mit den Stuntfrauen einen Spielfilm zu machen: «Ich würde gern Stunts für sie schreiben, die die Gesetze der Physik brechen, in denen sie fliegen! Frauen sind auf realistische Stunts beschränkt, und je härter und gewalttätiger sie sind, desto mehr lieben wir sie. Das würde ich gerne umkehren.» Und weil sie nicht zehn weitere Jahre mit Trockenübungen verbringen konnte, sprang Elena Avdija zur Vorbereitung schon einmal buchstäblich ins Leere: Sie liess sich aus dem ersten Stock eines Gebäudes fallen. «Ich hatte fürchterliche Angst davor, aber es musste einfach sein.»  

 

Originaltext: Französisch

 

Auf dem Parkett

Nina Scheu
21 Juli 2022

Bedingungslos

Anna Simonetti
31 Mai 2022

Irische Gemeinschaft

Max Borg
28 März 2022

Upcoming doc

Anne-Claire Adet
06 Januar 2022

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife