MENU Schliessen

Bedingungslos

Anna Simonetti
31. Mai 2022

Mit dem intimen Porträt seines Cousins, «Avec Calvin», wurde Arthur Jacquier nach Clermont-Ferrand eingeladen.

Anderen begegnen und damit von der Welt zu erzählen – mit diesem Ziel nahm Arthur Jaquier 2019 an der Hochschule für Kunst und Design in Genf (HEAD) sein Filmstudium auf, nachdem er zuvor Bildende Kunst studiert hatte. Das Bedürfnis nach mehr Kontakt und sozialem Austausch hatte den 29-jährigen Filmemacher zu diesem Wechsel veranlasst. «Im Umfeld der zeitgenössischen Kunst fand ich es am Ende schwierig, in dem, was ich machte, einen Sinn zu erkennen, und der Gedanke, allein in meinem Atelier vor mich hin zu arbeiten, passte mir gar nicht mehr», erklärt er. «Im Film schien mir auch viel stärker ein gemeinschaftliches Arbeiten möglich zu sein.»

Die Idee, seinen Cousin, zum Protago­nisten eines Films zu  machen, hatte er schon, bevor er sich bei der HEAD einschrieb. «Avec Calvin», der Anfang des Jahres vom Kurzfilmfestival in Clermont-Ferrand aufgenommen wurde, erzählt das Leben von Calvin, einem findigen Jungunternehmer, der auf den Strassen von Genf Honig aus dem Nahen Osten verkauft. Er teilt sein Fachwissen als Händler bereitwillig mit Jüngeren, zu denen er enge Beziehungen knüpft. Sein bedingungsloser Einsatz für die Sache deckt sich nicht mit den Erwartungen seiner Familie, die sich eine ganz andere Zukunft für ihn gewünscht hätte.

«Unter den Menschen aus meinem Umfeld fand ich ihn einfach am faszinierend­sten. Auch Calvins Art, das Studium in den Wind zu schlagen und seinen ganz eigenen Weg zu gehen, hat mich berührt. Er nahm Kontakt auf mit einer anderen Kultur, lebte nach Regeln, die seine Familie nicht verstand.» Calvins Charisma, sein ausdrucksstarkes Gesicht und die enge Beziehung zu ihm waren die Basis für ein erstes, fiktives Porträt. Doch der Filmemacher erkennt schnell, wo die Grenzen der Übung liegen, und beginnt mit der Entwicklung eines Mischverfahrens aus Realität und Fiktion, um Calvins Alltag nahe zu kommen.

 

Die Kamera als Kommunikationshilfe 

Für den Titel verwendet Arthur Jaquier die Präposition «mit» – einerseits Ausdruck des Anspruchs, keinen Film ausschliesslich «über» jemanden zu drehen, aber auch augenzwinkernde Anspielung auf eine im Allgemeinen dem Spielfilm vorbehaltene Methode. Die Kamera ist Kommunikationshilfe, Lernmittel und Ausgangspunkt vieler Fragen zugleich: «Wie gut versteht er meinen Ansatz, das, was ich mit dem Film erreichen will? Verstehe ich dadurch auch sein Leben besser?» Die Antwort darauf liegt für Arthur Jaquier im Austausch selbst: «Mit dem Filmen hatte ich die Chance, ihn so kennenzulernen wie er ist, so wie es uns umgekehrt gezeigt hat, wo unsere Grenzen lagen.» Die grösste Schwierigkeit dabei war, den richtigen Mittelweg zu finden zwischen dem Anspruch auf ein authentisches Porträt und Calvins eigener Sicht auf sich selbst. «Wir haben es mit einer Generation zu tun, der die Selbstinszenierung in Fleisch und Blut übergegangen ist; für sie ist fotografiert oder gefilmt zu werden Alltag.» Die oft geschönten Bilder sind schwer zu dekonstruieren. Um über die blosse Abbildung hinauszukommen, beschliesst der Filmemacher, spielerisch zwischen Dokumentar- und Spielfilm zu wechseln, insbesondere in einer Sequenz des Films, die auf «Once Upon a Time in the West» Bezug nimmt. «Die Einleitung des Films von Sergio Leone hat mich gefesselt, dann meine Fantasie angeregt. Ausserdem verstärkt das Cinemascope-Format, das ich zitiere, ganz bewusst eine Ästhetik des Spielfilms.»

Arthur Jaquier, der den Menschen, die er filmt, immer auch zuhört, ist es an einer möglichst horizontalen Art des Arbeitsprozesses gelegen: seine Protagonisten wie das Team wirken bereits an der Entstehung des Drehbuchs mit. Darüber sprachen wir mit Elijah Graf, einem HEAD-Absolventen von 2020, der Arthur bei seinem Abschlussprojekt, erneut mit Calvin, als Regieassistent unterstützt. «Da sich die Dreharbeiten über mehrere Monate erstrecken, ist auch meine Hilfe längerfristig angelegt, so dass ich manchmal zwischen Calvin und Arthur vermittle, denn Arthur führt auch die Kamera», erklärt Elijah Graf.

Arthur Jaquier seinerseits fragt sich, wie er seine Filme unter die Leute bringen kann. «Ich würde gerne alternative Wege ausprobieren. Filme in der Independent-Tradition sollten auch Wege finden, ein anderes Publikum anzusprechen als jenes der Filmfestivals.» 

 

Originaltext Französisch

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife