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Vor lauter Plus das Minus nicht sehen

Dominik Tschütscher
07. April 2023

© Elodie Grethen

Dominik Tschütscher gestaltet bei der Diagonale’23 das Film Meeting, die Branchenkonferenz des Festivals des österreichischen Films. Seit 2011 ist er Leiter der Nachwuchsinitiative Cinema Next – Junger Film aus Österreich.

In Österreich kam mit der amtierenden Regierung endlich, was die Filmbranche seit Jahren forderte: ein Anreizmodell für Film- und Fernsehproduktionen, um den Filmstandort Österreich international wettbewerbsfähig zu machen. Im Juli 2022 verkündeten vier Minister und Ministerinnen in einer Pressekonferenz, dass es am 1. Januar 2023 mit einem neuen «Filmstandortgesetz» (und auch entsprechenden Novellierungen der bestehenden Film- und Fernsehförderungsgesetze) eingeführt wird. Die Branche bejubelte das Paket als Game Changer und freute sich über die Ankündigung eines ungedeckelten Finanzierungstopfes und über Zuschüsse in Höhe von bis zu 35 Prozent jener Kosten, die in Österreich im Zuge einer Filmproduktion getätigt werden (fünf Prozent davon bei Einhaltung von Green-Producing-Kriterien). Bis zu 80 Millionen Euro pro Jahr, prophezeite der Wirtschaftsminister, werden so zusätzlich in TV- und Kinoproduktionen fliessen, die Produktionen und Streamingdienste dieser Welt endlich auch nach Österreich locken und für mehr Beschäftigung sorgen.

Ein halbes Jahr blieb Zeit, Gesetze und Richtlinien implementierbar auszuarbeiten. Die «Spitzenfinanzierung» von Kinofilmen, die die im Arbeits- und Wirtschaftsministerium angegliederte Fördereinrichtung FISA vergab, wanderte nun zum Österreichischen Filminstitut, der bundesweiten Kinofilmförderungsstelle. FISA kümmert sich neu um Service-, Streaming- und Fernsehproduktionen. Um das «Mehr», das sie nun anbieten können, zu betonen, gab das Filminstitut seiner Zusatzförderung den Namen ÖFI+ und aus FISA wurde gänzlich FISAplus.

Sehr viel Plus also, das die österreichische Filmbranche erwartet. Aber nun dämmerte ihr, dass ein Problem, dem sie sich bis dahin nicht stellte, auch ein grosses Plus erfahren wird: der Fachkräftemangel – zu wenige qualifizierte Kräfte in vielen Departments, zu wenig Nachwuchs, der in die Branche wächst. Eine Strategie, diesem Mangel an Fachkräften und in einigen Bereichen auch an Professionalisierung zu begegnen, gab es keine, ist jetzt aber dringend notwendig. Beim diesjährigen Diagonale Film Meeting, der Branchenkonferenz des Festivals des österreichischen Films, wird daher vor allem dieses Thema im Fokus stehen.

Eine Schweizer Kollegin sagte mir letzthin, dass der Fachkräftemangel auch bei ihnen ein Problem sei, trotz Weiterbildungsstrukturen wie FOCAL oder erfolgreichen Programmen wie dem dort angesiedelten Stage Pool zur Teilfinanzierung von Berufspraktika. In einer Branchendiskussion zum Thema habe man festgestellt: Es sind die Arbeitsbedingungen, die für den Mangel mitverantwortlich sind! Aktuelle Studien zur sozialen Lage wie auch zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben der Filmschaffenden in Österreich zeichnen kein gutes Bild: Eine Vereinbarkeit wird «in hohem Masse als schwer bewältigbarer Spagat» erlebt, besonders von Frauen; diskontinuierliche, fragmentierte und wenig planbare Beschäftigungsverhältnisse sind Alltag, lange Arbeitstage und über 60-Stunden-Wochen keine Seltenheit; verbindliches Regelwerk (Kollektivverträge), so berichten über die Hälfte der Befragten, diene mehr der Orientierung als es angewandt werde. Das alles hat Folgen für die Gesundheit: Der allgemeine Gesundheitszustand, so beschreibt es eine der Studien, «wird von filmschaffenden Frauen und Männern im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich seltener als „sehr gut“ eingestuft […]. Dieser Gap fällt besonders ausgeprägt bei jüngeren Filmschaffenden bis 30 Jahre aus.»

Kann es also sein, dass viele Kräfte und Kreative einfach nicht oder nicht mehr beim Film arbeiten wollen?

Jede Filmbranche tut also gut daran, die eifrige Suche nach Fachkräften auch direkt mit der sozialen Frage zu verbinden: Wie schaut eine sichere, gesunde und attraktive Filmarbeit aus? Und findet besser eine Antwort darauf, bevor man all die Streamingdienste und anderen Produktionen auf die vorhandenen Kräfte loslässt. Weil sonst aus dem Plus, das plötzlich da war, schnell ein Minus werden könnte.

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