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Grenzen der Freiheit im Online-Streaming

Giuseppe Di Salvatore / Laurent Dutoit
23. Juli 2020

Bild: Glenn Carstens-Peters / Unsplash

Sollen Streaming-Rechte ohne territoriale Beschränkung verkauft werden – oder bedrohen solche Ideen die Vielfalt? Zwei Ansichten dazu.

Ich träume von einer Welt, in der die Streaming-Rechte nicht-exklusiv und ohne geografische Begrenzung direkt von den internationalen Verkaufsbüros der Filmproduktionsfirmen unter Umgehung der regional tätigen Offline-Verleiher gehandhabt werden.

Dieser Traum taucht in der Einleitung des Fokus auf, den Film­explorer dem Online-Streaming gewidmet hat. Dies mit dem Ziel, eine allgemeine Reflexion vorzuschlagen, die es uns ermöglicht, die wirkliche Frage hinter einer sich oft verzettelnden Debatte über rechtliche Mikroanpassungen zu verstehen. Zwei Feststellungen drängen sich auf: Die erste bestreitet die Konkurrenzlogik, die oft auf die Verbreitung von Filmen online (VoD-Plattformen) und offline (Kinos, Filmfestivals) projiziert wird. Dies sind zwei sehr unterschiedliche Modalitäten – und für den Zuschauer Erfahrungen – mit unterschiedlichen Marktbedürfnissen. Wie die im Filmexplorer-­Fokus befragten Fachleute hervorheben, geht es eher darum, über die Komplementarität von online und offline nachzudenken, indem man Koordinations- und Bündnisstrategien entwickelt.

Die zweite Feststellung erkennt an, dass die aktuelle Gesetzgebung geschaffen und konsolidiert wurde, um den Offline-Verleih von Filmen zu verwalten, für den Exklusivrechte und geografische Begrenzungen (Geoblocking) interessante Aspekte sind. Exklusivität und Geoblocking sind jedoch zwei Beschränkungen auf dem Verleihmarkt, die für den Online-Verleih von Filmen keinen Sinn machen. Letzterer ist konstitutiv international und pluralistisch, und die Schwerpunkte für die Konkurrenz wären eher sprachliche und kuratorische Kriterien. Es wäre daher angebracht, das Prinzip getrennter Regelungen für den Offline- und den Online-Verleih zu akzeptieren, die als parallele Kanäle neu zu überdenken sind. Die VoD-Plattformen wären so nicht ein weiteres Glied, das der Offline-Filmdiffusion hinzugefügt werden muss, und sie würden als «Verleiher» mit den entsprechenden Rechten und Pflichten – einschliesslich der Verpflichtung zu einer Abgabe eines Prozentsatzes der Gewinne für die Produktion – anerkannt.

Giuseppe Di Salvatore, Filmexplorer

▶  Originaltext: Deutsch

 

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Für einen Cinéphilen wie mich ist die Forderung von Filmexplorer einigermassen beunruhigend. Sie widerspiegelt die vielen Versuche, die Krise auszunutzen, in die das Kino seit Jahresbeginn und seit der Ausbreitung des Cornavirus geraten ist, um das Filmesehen auf der grossen Leinwand in den Bereich des Musealen zu verdrängen und künftig nur noch auf VoD- und SvoD-Plattformen zu setzen, die ja neue Verbreitungsformen des Fernsehens sind. Auch wenn die kollektive Rezeption, solange sie potentiell gesundheitsgefährdend ist, bestimmt noch eine Zeitlang unattraktiv bleiben wird, stimmt es mich traurig, mir eine Zukunft vorstellen zu müssen, in der alle zu Hause sitzen und auf einem kleinen Bildschirm «Content konsumieren».

Es ist freilich illusorisch, sich vorzustellen, der Schweiz könne ihre Angebotsvielfalt und die Vielzahl ihrer Leinwände erhalten bleiben, würde das Prinzip der territorialen Exklusivität aufgegeben. Man braucht nur einen Blick auf die Verhältnisse bei unseren österreichischen Nachbarn zu werfen, wo die meisten «offline»-Rechte sich im Besitz deutscher Verleiher befinden, und wird sehen, dass das Autorenkino dort praktisch keinen Boden mehr hat und stattdessen amerikanische Filme und deutsche Komödien das Feld erobert haben.

Ein System, bei dem die Streaming-Rechte ohne Exklusivität und ohne geografische Abgrenzung vergeben werden, würde automatisch auch das Ende der Schweizer Plattformen bedeuten: Sie hätten angesichts der Werbepräsenz und Finanzkraft der Konkurrenz im umliegenden Ausland keine Chancen, mitzuziehen. Heute steht unseren Plattformen nichts im Weg, sich bei internationalen Verkäufern um die Rechte aller Filme zu bewerben, die in der Schweiz keinen Verleiher haben. Und die Titel, deren kommerzielles Potential eine Kino-Auswertung erlaubt, sind für sie vier Monate nach dem Start verfügbar.

Die Hauptaufgabe des Verleihs ist, die höchstmögliche Sichtbarkeit und Zugänglichkeit der Filme für alle Verbreitungsformen zu optimieren. Dazu sind aber die Grundsätze der zeitlichen und örtlichen Exklusivität unabdingbar. Wenn es sich ausgezahlt hätte, einen Film parallel zur Fernsehausstrahlung im Kino zu spielen, hätte ein solches Modell bei uns längst schon floriert. Nicht ohne Grund bildet England, das bei Filmen ohne grosses kommerzielles Potential ständig das «Day-and-date»-Modell praktiziert, mit 1 Prozent das Schlusslicht auf der Liste der Marktanteile nicht-nationaler europäischer Filme. In der Schweiz sind es 25 Prozent ...

Laurent Dutoit, Verleiher (Agora Films) und Kinobetreiber


▶  Originaltext: Französisch

 

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