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Filmkritik – Porträt eines schmarotzenden Berufsstands

Emilien Gür
12. Januar 2024

© Solothurner Filmtage

Laut Emilien Gür, Filmkritiker und Mitglied des Programmteams der Solothurner Filmtage, ist die Filmanalyse eine Praxis, die unter anderem Leidenschaft vermittelt und gleichzeitig unerwartete Aspekte eines Werkes aufzeigt.

Ein Kinobesuch ist ein traurig banales Erlebnis, anonym und frei von jeglicher Originalität. Unauffällig betritt man den Saal, und genauso unauffällig verlässt man ihn wieder. Während der Vorführung fühlt man sich vollkommen ersetzbar: Filme richten sich nicht an eine bestimmte Person – darin liegt ihre Grenze und zugleich ihre Schönheit. Ein Kinobesuch ist also ein Nicht-Ereignis, und damit ein seltenes und erfreuliches Gut in einer Zeit, in der menschliches Tun im Allgemeinen und Kultur im Besonderen stets ein Ereignis sein muss. Jede Veranstaltung muss etwas Einzigartiges bieten, um dem Publikum ein Gefühl der Exklusivität zu vermitteln, das sich gut verkauft.

Währenddessen wechselt das Kinoprogramm jeden Mittwoch, in unveränderlich starrer Routine. Filmkritik ist in erster Linie eine Chronik dieser Welt, monoton und prosaisch. Dem Geschick der Vertreiber und Vertreiberinnen und dem Geschäftserfolg der Kinobetreiber und -betreiberinnen ausgeliefert, berichten Kritiker und Kritikerinnen über das, was im Verlauf der Woche in der Ecke der Welt, in die sie entsandt wurden, gezeigt wird. So vergeht die Zeit, während sie vor der Leinwand sitzen und sich für die Geschichten anderer interessieren, wie Privatdetektive und -detektivinnen. Es ist gewiss kein Zufall, dass beide Berufe oft als schmarotzerisch wahrgenommen werden. Das hat nichts Beleidigendes, sondern bezeichnet vielmehr eine Grundeigenschaft der Kritik, die sich von Filmen ernährt und ihnen zugleich schadet – die wohlbekannten Tücken der Interpretation und des Kommentars.

Meist eh nicht sehr gern gesehen, haben Kritiker und Kritikerinnen nichts zu verlieren, im Gegensatz zu Werbeleuten, Influencern und Influencerinnen, deren Worte Gold wert sind. «Sie kommen (des Weges, aus der Mode, hinter die Kulissen), attackieren (das Werk, das Nervenkostüm) und verleiden schliesslich», schrieb einer der brillantesten unter ihnen, Serge Daney. Bevor man sie zum Teufel jagt, ist das Beste, was sie tun können, mit ihren Worten den Film wieder erlebbar zu machen, so wie die Kollegen und Kolleginnen vom Sport das Spiel wieder erlebbar machen. Ob die Worte lobend oder vernichtend sind, spielt dabei keine Rolle. Es geht vielmehr darum, den Lesern und Leserinnen den Ball zuzuspielen, um sie selbst ins Kino zu bewegen – was keine leichte Aufgabe ist.

Eine Kritik zu schreiben, ist ein bisschen wie eine Flaschenpost zu verschicken: Man weiss nie, ob und bei wem sie ankommt, und den Absender oder die Absenderin kümmert es nicht mehr – er oder sie ist schon beim nächsten Film. Wenn alles gut geht, überbringt die Flasche eine Botschaft. Bei der Kritik geht es also um (die richtigen) Worte und um (codierte) Sprache, zuweilen sogar um Literatur. Die besten Kritiker und Kritikerinnen sind Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die diese Berufung noch nicht gefunden haben. Ihr besonderes Merkmal: Sie schreiben weniger über Filme, als über den Film – diesen alten Traum, der immer wieder neu erfunden wird. Über Kino reden heisst über Gott und die Welt reden, über Filme im Besonderen und das Leben im Allgemeinen, über andere und sich selbst. Am Ende des Textes bleibt vielleicht ein Satz, eine Idee, ein Geistesblitz hängen. Nicht genug, um ins literarische Pantheon aufzusteigen, aber ausreichend, um eine Vorliebe zu vermitteln und Begeisterung zu wecken. Wenn die Schmarotzenden ihre Arbeit richtig machen, werden irgendwo auf der Welt einige ihrer Leser oder Leserinnen zu Filmschaffenden.

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